2016 wird das Jahr, in dem sich der Journalismus so stark verändern wird wie schon lange nicht mehr. Deshalb: Die 5 wichtigsten Themen, über die wir im kommenden Jahr werden reden müssen.
1. Kleinteilige Welt: Partikel statt Artikel
Das Selbstverständnis des Journalisten geht immer noch davon aus: „Richtiger“ Journalismus ist nur das abgeschlossene Stück. Egal, ob Artikel oder TV-Beitrag, wir denken in den großen Dimensionen. Und in denen, in denen das gedachte Wort „Ende“ vorkommt. Das ist allerdings ein bisschen widersinnig im Zeitalter des permanenten Newsstreams – wann, bitte schön, soll denn etwas zu Ende sein?
Natürlich, auch weiterhin gibt es die Ereignisse, über die man abschließend berichtet. Selbstverständlich werden wir weiter Kommentare, Reportagen, Analysen, „fertige“ Stücke eben produzieren. Allerdings brauchen wir dringend eine Idee, wie wir neben dem Artikel auch den Partikel als ein erstzunehmendes Narrativ etablieren.
Das ist im Übrigen keine Sache, die nur den klassischen Text betrifft. Wie sich Erzählungen zunehmend aus Partikeln zusammensetzen, erleben wir nirgendwo so drastisch wie ausgerechnet beim Thema Bewegtbild. Bei Videos war die Sache noch bis vor kurzem klar: Das ist ein „gebauter“ Beitrag. Sieht meistens aus wie Fernsehen, selbst dann, wenn der Beitrag nicht im Fernsehen zu sehen ist. Inzwischen gibt es enorm vieles, was aus Bewegtbild sein kann: ein 15-Sekünder bei Instagram, ein auch ohne Ton funktionierendes Autoplay-Stück bei Facebook oder auch ein Livestream, vermutlich der Inbegriff eines Partikels. Man loggt sich von irgendwoher ein, macht eine mehr oder weniger kurze Momentaufnahme von irgendwas und geht dann wieder. Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil des „gebauten“ Beitrags. Trotzdem: In der Masse wird Bewegtbild in den nächsten Jahren sehr viel mehr aus diesen winzigen Partikeln statt aus dem ganz großen Kino bestehen.
Wobei ich diesen Begriff „Narrativ“ bewusst gewählt habe. Eine Ansammlung von Tweets, Snaps, Instagram, Livestreams und Facebook-Postings ist eben erst einmal nur das: eine lose Ansammlung. Wohingegen ein Narrativ dann entsteht, wenn man gezielt anfängt, Geschichten zu erzählen. Wie also sieht diese kleinste Narrativ unterhalb des Artikels und des Beitrags aus? Vermutlich eine der spannendsten Fragen für 2016.
2. Digital vs. analog: Lassen wir den Graben Graben sein
Seit ein paar Monaten beschäftigt mich diese Frage intensiv: Wie sinnvoll ist es zu versuchen, ein „analoges“ Publikum auf digitale Plattformen holen zu wollen? Mehr und mehr komme ich zu den Einschätzung, dass es ein komplett idiotisches Unterfangen ist. Weil es aussichtslos ist und weil wir es kaum schaffen werden, dem eingefleischten Zeitungsleser die Vorzüge eines Smartphones nahelegen zu wollen. Oder dem Fernsehzuschauer die Errungenschaften einer App. Mediennutzer sind, das zeigen nahezu alle einschlägigen Untersuchungen, beinahe so stur wie Bankkunden, die auch erst wechseln, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Tatsächlich sind die Zuwächse bei den digitalen Medien zu einem beträchtlichen Teil einem Publikum unterhalb der 40 zu verdanken.Nahezu alle, die altersmäßig darüber liegen, mögen sich mal mehr und mal weniger für Netz und seine Segnungen interessieren, beim Medienkonsum bleiben sie aber überwiegend konservativ.
Das aber bedeutet für alle, die nicht zu der Kategorie der „Digital Onlys“ gehören, auf längere Zeit zweigeisig fahren zu müssen. Zweigleisig, weil sie ihre bisherigen analogen Angebote aufrecht erhalten müssen, um gleichzeitig neue, digitale Projekte zu etablieren. Dass man das Publikum auf beiden Seiten des digitalen Grabens miteinander versöhnen kann, ist so unwahrscheinlich, dass man es besser nicht auf einen Versuch ankommen lässt.
3. Livestreaming und anderes: Lieber jetzt als gleich!
Journalismus war früher eine ziemlich einfache Sache. Zumindest in textlastigen Medien. Eine, in der man – stark zugespitzt gesagt – über Dinge berichtete, die in der Vergangenheit lagen. Was man in bestimmten Zyklen machte, ob nun alle 15 Minuten oder einmal im Monat. Egal also, welche Form des Journalismus man sich erwählte, ob die nüchterne Nachricht oder der feurige Kommentar: Der Begriff „live“ war dem Radio und dem Fernsehen vorbehalten.
Das lag in erster Linie daran, dass Radio und Fernsehen die einzigen Medien waren, die technisch überhaupt in die Lage kamen, Dinge live zu übertragen. Und weil sich das allmählich ändert, ist plötzlich das Thema Echtzeit eines für beinahe alle geworden. Der wirklich spektakuläre Aspekt dabei ist das Livestreaming, das 2015 mit Apps wie „Meerkat“ oder „Periscope“ seinen massenkompatiblen Durchbruch geschafft hat. Aber wie das eben so ist mit neuen Themen: Erst einmal sind es die „First Mover“, die sich mit so etwas auseinander setzen. Inzwischen aber haben eine ganze Reihe von guten Beispielen und Anwendungen gezeigt: Das Thema Livestreaming wird uns bleiben, es wird sich in nächster Zeit zu einer Selbstverständlichkeit entwickeln. So wie man inzwischen wie selbstverständlich twittert oder bei Facebook präsent ist, so wird man mit Livestreams von sonstwoher präsent sein. Gerade weil es so einfach zu handhaben, ist es für nahezu jeden interessant, der Journalismus macht: vom Lokalreporter bis zum Auslandskorrespondenten.
Das Thema hat aber noch einen weiteren Aspekt. Weil zu der bisher vergangenheitsgetriebenen Seite des Journalismus eine weitere kommt: Berichten in Echtzeit. Das kann man mit bewegtem Bild naturgemäß besonders gut. Aber Livestreams sind nicht die einzige Möglichkeit. Genau genommen gehört jede Social-Media-Plattform zu den Kanälen, die das Leben so abbilden, wie es gerade im Augenblick ist. Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, kann man sicher sein: Irgendwo in den Tiefen von Twitter, Snapchat, What´sApp oder Instagram wird es abgebildet. Das ist ein Aspekt, den man gerne übersieht, wenn man von diesen Plattformen spricht. Trotzdem: Wenn sich Journalisten zukunftsfähig aufstellen wollen, entwickeln sie eine Idee davon, wie sie mit dem Thema „Live-Journalismus“ umgehen wollen.
Was auch damit zu tun hat, dass die Generation der heute 15- oder 20jährigen das wie selbstverständlich wahrnimmt und erwartet: Wenn etwas passiert, existiert davon auch ein virtuelles Abbild. Es wäre keine schlechte Idee, wenn Journalisten an diesem virtuellen Abbild mitzeichnen würden.
4. Personalisierung: Gib´s mir!
Als ich vor ungefähr 15 Jahren das erste Mal mit dem Thema „Personalisierung“ in Berührung gekommen bin, habe ich das – zugegeben – für Quatsch gehalten. Für netten Quatsch zwar, aber eben doch für Quatsch. Damals habe ich mir gedacht: Warum soll ich möglicherweise wichtige und interessante Dinge ausblenden, die mir die lieben Kollegen aufbereiten. Das war im Jahr 2000. Da hatte ich noch den Eindruck, man könne die Massen an Medien noch halbwegs bewältigen. Heute weiß ich, dass das womöglich schon damals ein Trugschluss war. Heute ist das Realität: Wer sich die Fluten an Informationen stürzt, der ersäuft darin. Vermutlich ist es heute der Ausweis höchster Medienkompetenz, wenn man weiß, welche Filter man ansetzen muss.
Natürlich weiß ich, dass es so etwas wie eine „Filter Bubble“ gibt. Ich weiß, dass jedes Weltbild einseitig ist, mein eigenes natürlich eingeschlossen. Aber man macht weder sein Weltbild noch seinen eigenen Informationsstand besser, wenn man planlos anfängt, irgendwo rumzusurfen. Das ist das neue Zapping – und wie das endet, wissen wir seit den Zeiten, in denen man plötzlich mehr als 30 TV-Programme zur Verfügung hatte und unleidlich wurde, weil man den ganzen Abend irgendwelches Geflimmer so ein bisschen und nichts richtig wahrnahm. Die jüngeren unter Ihnen ersetzen dieses Beispiel bitte einfach durch sinnloses Scrollen in Social-Media-Timelines. (Was im Übrigen nicht bedeuten soll, dass sinnloses Zappen und Scrollen nicht manchmal auch ganz nett wäre).
Trotzdem: Wir kommen heute an dem Thema Personalisierung und personalisierte Angebote nicht mehr vorbei (eine Erkenntnis, die ich wesentlich den großartigen Kollegen Christian Daubner, Marcus Schuler und Mustafa Isik vom BR zu verdanken habe, die ich Ihnen hiermit zum Verfolgen in den diversen Netzwerken ans Herz legen möchte). Die Sektion „Mein BR24“ ist inzwischen mein persönlicher Favorit in der Nutzung der BR24-App geworden. Weil ich mich sehr darauf verlassen kann, tatsächlich einen Überblick über die Themen zu bekommen, die mich wirklich interessieren. Es schadet im Übrigen weder Journalisten noch Nutzern sich einzugestehen, dass man sich völlig unmöglich für alles interessieren kann. Wenn man dann so ehrlich zu sich selbst ist, dann kommt man an einem weitgehend personalisiertem Angebot nicht mehr vorbei.
Im Übrigen ist diese grandiose Erkenntnis eine, die die Großen im Netz schon lange hatten: Wer heute googelt oder bei Amazon oder Apple einkauft, kann sich darauf verlassen, dass das, was er zu sehen bekommt, so personalisiert wie nur möglich ist. Selbst wenn der User selbst sich in dem Glauben wähnt, gar nicht personalisiert zu haben.
Klingt erstmal alles nach Bagatelle und einem eher technikgetriebenen Problem. Ist es aber nicht. Weil es in der Konsequenz bedeutet, dass sich die Idee, wir Journalisten könnten mit einem Angebot ungefähr alle glücklich machen, zunehmend als nicht mehr umsetzbar erweist.
Meine These: In 10 Jahren haben sich die meisten General-Interest-Angebote erledigt.
5. Wir sehen uns alle auf dem Smartphone wieder
Die Frage musste man sich ja bis vor kurzem immer mal noch stellen lassen: Für welches Medium arbeiten Sie? Man antwortete dann höflich, man arbeite für eine Zeitung oder beim Radio oder beim Fernsehen (wenn man „Online“ geantwortet hat, wurde man schon kurz darauf nicht mehr ernst genommen).
Das hat sich mittlerweile erledigt, zumindest dann, wenn man noch ein paar Jahre in diesem Job überleben will. Tatschlich gibt es keinen Journalismus mehr, der nicht digital wäre. Im Jahr 2016 wird man hinzufügen müssen: und mobil zudem. Die Durchdringung mit Smartphones ist inzwischen insbesondere beim jüngeren Publikum so hoch, dass diese kleine Ding mittlerweile zum wichtigsten Gerät in der täglichen Mediennutzung geworden ist. Wichtiger als jeder Fernseher, als jedes Radio. Wer nicht auf dem Smartphone präsent ist, kann sich genauso gut auch gleich eingraben lassen.
Präsenz auf dem Smartphone, das bedeutet: Man muss sich etwas einfallen lassen, was darüber hinaus geht, mobile Versionen der eigenen Webseite anzubieten. Im Gegenteil: Man muss das Smartphone im Jahr 2016 in den Mittelpunkt aller strategischen Überlegungen stellen. Weil es nicht nur ein Gerät zur potentiellen Mediennutzung ist, sondern mehr und mehr zum Mittelpunkt unseres digitalen Alltags wird. Bedenkt man dann noch, dass auch soziale Netzwerke zunehmend gerne mobil genutzt werden, dann kann man sich vorstellen, welch potentiell explosive Mischung das ist: sozial und mobil zugleich. Wenn sich ein Großteil des durchschnittlichen User-Lebens künftig so abspielt, kann man sich leicht ausrechnen, wie fahrlässig es ist, das Smartphone immer noch als ein nettes Zusatz-Gadget abzutun.
Fotos auf dieser Seite: BR, Christian Jakubetz
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