Manchmal kommen die Dinge halt einfach so zusammen: Das Thema Social Media hat so kurz vor Torschluss 2023 nochmal die Debatten dominiert. Das heißt, so ganz richtig ist das nicht. Eigentlich hatten wir es mit ganz normalen Themen zu tun, die dann erst durch Social Media erheblich an unschöner Dynamik gewonnen haben.
Thomas Gottschalk hat seine letzte Sendung “Wetten, dass…” moderiert. Das wäre nicht weiter der Erwähnung wert, weil Gottschalk davor schon dreimal den Abschied aus der Sendung verkündet und seine wirklich allerletzte Show moderiert hat. Diesmal aber trat er nicht strahlend ab wie die Male davor – sondern er sagte noch ein, zwei Sätze zu seinen Beweggründen (wobei ich mich gewundert habe, dass ein Mann beinahe Mitte 70 dafür noch eine Begründung geben will, aber das ist wieder was anderes).
Gottschalks sinngemäße Aussage: Er könne inzwischen fast nichts mehr sagen, ohne einen Shitstorm auszulösen. Kurz darauf war er da, dieser Shistorm. Nicht ganz wenige Menschen regten sich in einem Shitstorm darüber auf, dass Gottschalk gesagt hatte, er könne fast nichts mehr sagen, ohne einen Shitstorm auszulösen. Der Widersinn des Ganzen war beinahe schon lustig, wäre er nicht leider auch gleichzeitig ein Beleg dafür gewesen.
Wie immer neuerdings gab es die übelsten Entgleisungen beim ehemaligen Twitter, wo einer der User schrieb, sein Hass aus Gottschalk sei grenzenlos und er wünsche ihm alles Schlechte. Wow, dachte ich mir: Reden wir immer noch von einer kleinen Samstagabend-Sendung?
Empörung ohne nachzudenken
Zweite Geschichte: Der bis dahin nur mittelmäßig bekannte Sänger Gil Ofarim sorgte vor rund zwei Jahren für Aufruhr. In einem Instagram-Video (inzwischen gelöscht) behauptete er, ihm sei der Check-In in ein Hotel in Leipzig mit der Begründung verwehrt worden, er trage eine Kette mit einem Davidstern. Erst wenn er die Kette abnehme, dürfe er als Gast in das Hotel, so seine Story weiter.
Ich muss die Geschichte nicht weitererzählen. Wenn Sie in den vergangenen Tagen nicht gerade unter einem Stein gelebt haben, dann wissen Sie, dass die rührselige Geschichte den kleinen Haken hatte, dass sie komplett frei erfunden war.
Beide Geschichten, die von Ofarim und die von Gottschalk, bewerte ich jetzt hier nicht. Wenn so viele Menschen schon aufgeregt durcheinander reden, wird die Sache nicht besser, wenn ich jetzt auch noch meinen Senf reinschütte. Warum hier trotzdem Gottschalk und Ofarim zum Thema werden: Beide Fälle stehen exemplarisch dafür, wie sich Social Media in den vergangenen Jahren zum Negativen verändert hat. Warum die Plattformen inzwischen zu einem echten Problem werden. Und wieso die eigentliche Idee der “sozialen Medien” immer mehr verkommt.
Ein Wort macht Karriere: Trigger
In den vergangenen Jahren hat man ein Wort immer öfter gehört:Trigger. Das führt dazu, dass inzwischen jeder, der ein bisschen genervt ist, von sich behauptet, “getriggert” zu sein. Das ist zwar Nonsens, zeigt aber leider auch, was tatsächlich immer öfter passiert: Social Media „triggert“ irgendwas in den Menschen. Leider immer öfter und leider in nervtötender Heftigkeit.
Selbst Menschen, die ich im echten Leben als besonnen, ruhig und angenehm erlebe, verlieren im (sozialen) Netz öfter mal die Contenance. Und sogar der kuschelige Robert Habeck hat schon vor Jahresfrist seinen Rückzug aus Twitter angekündigt. Seine Begründung: Er ertappe sich viel zu oft dabei, Dinge zu schreiben, die er eigentlich nicht schreiben wolle.
Kleiner Einschub: Hier schreibt Ihnen mit mir keineswegs der über alles Erhabene, der immer die Ruhe in Person ist. Im Gegenteil: Ich ertappe mich selbst oft genug dabei, dass es mich in den Fingern juckt. Ich kann mich dann oft lediglich mit einem irgendwie ja auch schon wieder amüsanten Gedanken zu beruhigen.
Dass es nämlich wunderbar absurd ist, mich mit einem womöglich völlig unbekannten Menschen über irgendwelche Themen heftig auseinanderzusetzen. Bringt niemandem was, außer hohem Blutdruck und ganz viel von diesem Trigger-Zeugs. Also, diese Sache mit dem Trigger: Sie löst Dinge aus, die Menschen im Normalzustand nicht machen (oder es wenigstens nicht sollten).
Im Falle Gottschalk sind das üble Beschimpfungen eines 73jährigen, über den man, wie bei allem im Leben, geteilter Meinung sein kann. Im Falle Ofarim waren es Beschimpfungen und handfeste Bedrohungen, gerichtet an einen Mann, dessen Unschuld sich erst jetzt herausgestellt hat.Bevor jemand sagt: konnte man ja alles nicht wissen – nein, wissen hätte man alles nicht wissen können, weder ob Ofarim gelogen hat, noch irgendjemand anderes. Im Netz, und das ist das Fatale, geraten ein paar Dinge zunehmend öfter außer Betrieb.
Beispielsweise die Unschuldsvermutung. Die wiederum ist einer der wesentlichen Bestandteil unseres Rechtsstaats, auf Social Media aber anscheinend zunehmend egaler. Oder die Idee, die in vielen Armeen der Welt praktiziert wird: Du darfst dich über alles und jeden beschweren, der unterste Dienstgrad über den obersten General. Einzige Bedingung: Zwischen dem Vorfall und der Beschwerde muss eine Nacht liegen (zum buchstäblich Drüber schlafen).
Ich bin mir ziemlich sicher: Hätten sich all die lautstarken Social-Media-Poster sowohl in der Causa Gottschalk als auch bei Ofarim (und vielen andere Geschichten) auch an der Idee dieser “Militärischen Nacht” orientiert, es wäre allen Beteiligten eine Menge erspart geblieben. Die Frage “Ist es das wert” führt nämlich nach 24 Stunden zu einer anderen Antwort als im Affekt. Noch dazu in einer Umgebung, in der die anderen ohnehin schon latent rumbrüllen.
Jeder hat seinen Sender
Das alles hat auch damit zu tun, dass sich die grundsätzliche Idee von Social Media in den vergangenen Jahren ziemlich gewandelt hat. Ursprünglich waren die Plattformen mal Communitys, die in erster Linie vom gegenseitigen Austausch leben sollten. Inzwischen hat Social Media paradoxerweise wieder zunehmend die Funktionsweise eingenommen, die sie eigentlich ablösen wollte. Für Menschen wie Ofarim, wie irgendwelche Influencer, aber auch für Politiker, Stars und sonstige irgendwie öffentlichkeitswirksame Menschen sind vor allem Insta und TikTok zu eigenen Mini-Sendern geworden. Interaktion spielt da sehr häufig nur noch eine Alibi-Rolle. Wer also was loswerden will, kann sich das auf der Plattform seiner Wahl sehr gut einrichten. Klar gibt es da auch sowas wie Kommentare, aber auf vielen Accounts spielen die nur eine untergeordnete Rolle. Das Social-Media-Rollenspiel ist in jedem Fall hierarchischer geworden. Kaum jemand käme auf die Idee, die wirklich großen Accounts noch als Begegnung auf Augenhöhe zu betrachten. Vermutlich sind es nicht mal die mittelgroßen von irgendwelchen B-Promis. Vor allem die videolastigen Kanäle sehen inzwischen eher wie Sendestationen aus anstatt wie ein Marktplatz der Ideen. Beobachten und Zuhören statt Interaktion: In diesem Klima werden nur jene Inhalte beworben und geteilt, auf die sich die Masse ohnehin einigen kann, es herrscht die Tyrannei der lautesten Stimme; das traditionelle Verständnis von Ruhm und Erfolg hat sich im Netz fortgesetzt.Was wiederum bedeutet: Soziale Netzwerke sind noch mehr zu Echokammern geworden. Noch mehr zu Kommerz. Noch mehr geprägt von der Idee, User möglichst lange mit Algorithmen zu halten. Mit der eigentlichen Idee von Social Media hat das nicht mehr viel zu tun.
Die Mär von der widerspruchsfreien Welt
Was man in diesem Zusammenhang übrigens gerne immer wieder hört: Man(n) müsse sich halt langsam daran gewöhnen, nicht mehr in einer widerspruchsfreien Welt zu leben. Das klingt hübsch kämpferisch, ist aber an Lahmheit und Denkfaulheit nicht zu übertreffen. Weil das voraussetzen würde, dass es eine solche widerspruchsfreie Welt jemals gegeben habe. Wenn das wiederum so wäre, hätten wir heute eine ganze Menge Rechte weniger und von einer offenen und freien Gesellschaft könnte vermutlich auch nicht die Rede sein.
Also, hört mit dem Geschwätz auf, erst jetzt sei Widerspruch möglich. Das ist zudem eine ziemliche Verhöhnung all derer, die mit ihrem Widerspruch dafür gesorgt haben, dass die Welt heute so ist wie sie ist. Nicht mal der älteste und weißeste Mann würde sich ernsthaft eine Welt ohne Widerspruch wünschen. Wir leben im Zeitalter von Social Media. Wer da ernsthaft davon redet, dass man sich zumindest in unserer westlichen Welt Möglichkeiten zum Widerspruch noch erarbeiten müsse, der spielt mal wieder das Opfer.
Und, siehe oben: Solcher Quatsch entsteht in den Filterkammern des Netzes. Dort verstärkt sich der Nonsens so lange, bis man irgendwann meinen könnte, es mit einer profunden These zu tun zu haben.
Muss das sein? Nein!
Klar lässt sich jetzt einwenden: Was will man schon machen angesichts der erdrückenden Marktmacht und der entsprechenden Abhängigkeiten von den Kraken-Plattformen?
Gerade Menschen, die irgendwas mit Medien und Kommunikation machen, kennen diese Falle, in der sie sitzen. Würde man seine Accounts aufgeben, verlöre man nicht nur Reichweite, sondern auch all seine erstellten Inhalte.
Der Fehler steckt also im bisher gängigen System. Wer sich einmal in die Welt eines Kanals einlässt, macht das bedingungslos. Drin ist drin – und draußen ist draußen. Die letzten etwas bekannter gewordenen Netzwerke sind dezentral organisiert, ein User kann also theoretisch die Plattform wechseln, ohne seine Follower zu verlieren. Wer dagegen beispielsweise seinen X- oder Insta-Account löscht, fängt wieder bei Null an. Nur zu verständlich, dass das für viele die Ultima Ratio ist.
Wenn es also irgendwann Standard würde, dass man seine Plattform vergleichsweise problemlos wechseln kann, es wäre ein Beginn. Wieder in die Richtung, in die sich Social Media schon mal bewegt hatte. Man hätte es also ein Stück weit selbst in der Hand, den Plattformen wenigsten ein bisschen von ihrer Macht zu nehmen. Man kann die Plattformen wechseln, man kann gerade als Medienmensch seine eigenen Kanäle stärken und nutzen.
Vielleicht sollten wir das im kommenden Jahr dann auch mal wieder tun: Da publizieren, wo wir die Kontrolle haben, wo die Inhalte uns gehören und wo wir nicht noch mehr kommerziell gepushte Echokammern aufbauen. Und nicht uns bei Social Media beschweren, dass Social Media so unschön geworden ist.