Es kommt mir gefühlt wie eine Ewigkeit vor, als dieser Satz hier die Runde machte: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.” Gesagt hat ihn ein Philosoph vor fast 25 Jahren in einem Interview mit dem „Spiegel”. Im Zeitalter von Social Media und Algorithmen klingt das ein bisschen wie Hohn. Nicht besser wird es, wenn Journalisten inzwischen ebenfalls beladen vor lauter Haltung und Weltbild fast nicht mehr laufen können. Und wenn dann auch noch Social Media und Algorithmen ins Spiel kommen, hat man beinahe schon eine Erklärung dafür, warum die Tatsache, dass der andere Recht haben könnte, immer weniger bedacht wird.
Steffen Klusmann, Chefredakteur des „Spiegel”, war sich sicher: Das vorliegende Buch sei das wichtigste Buch des Jahres. Das schrieb er unlängst in einem Newsletter seines Blatts an die Abonnenten. Was er meinte, war (Sie ahnen es) “Noch wach?” von Benjamin von Stuckrad-Barre. Ich hätte ja schon alleine wegen des marketinggetriebenen, wenig originellen Titels meine Zweifel an dieser Wertung gehabt, aber sei’s drum.
Um die Einschätzung noch ein wenig zu verstärken, widmete der “Spiegel” Buch, Thema und Autor das Titelbild, die Titelgeschichte, ein sagenhaftes Stucki-Trommelfeuer, den Abdruck des gesamten ersten Kapitels im Heft und auch Online. Dort sogar mit der Möglichkeit, dieses Wunderwerk der Weltliteratur an andere User zu „verschenken”. Also, natürlich nur das erste Kapitel. Hätte sich ein Junior-Marketing-Manager diese Kampagne ausgedacht und seiner Agentur vorgeschlagen, man könne doch mal versuchen, so etwas in einem von Deutschlands größten Blättern zu lancieren, man hätte ihn vermutlich gefragt, wo man das Zeug herbekommt, das er so raucht.
Als ich meine Ohren mal ganz nah an meinen Rechner gehalten habe, meinte ich kurzzeitig, ein aufgeregtes Schnaufen der Redakteure durch die Seite hindurch gehört zu haben. Wunder wäre es keines gewesen, angesichts der erhabenen Bedeutung, die sich Klusmann und der Spiegel in diesen Tagen selbst verliehen. Das Buch des Jahres! Mit Interview und Vorabdruck! In der Marketingabteilung von Stuckrads Verlag jedenfalls werden Sie die Champagnerflaschen gar nicht mehr zählen können, die sie in den letzten Tagen geköpft haben. Eine solche Kampagne zu bezahlen, das wäre sehr teuer gewesen.
Stucki selbst blickte mit aller selbstgerechten und aufgesetzten Blasiertheit vom Titel und aus den Fotos, die ihn gelegentlich so schwer zum Aushalten macht, selbst wenn man ein paar seiner Sachen ganz gerne gelesen hat (Panikherzbeispielsweise).
Erster kleiner Schlenkereinschub dieses Textes (womöglich kommen noch mehr): Das Buch liest sich, als wenn Stucki eine KI und einen Marketing-Manager mit einem Rohskript beauftragt hätte. Immer wieder weiß man ziemlich genau, was jetzt als Nächstes passiert und alles in allem kommt die Handlung derart gestanzt und erwartbar daher, dass man seinen Wert auf das reduzieren kann, was er von Anfang war: Man bekommt ein paar sehr intime Einblicke in einen Verlag und auf Menschen, die mit Axel Springer, Julian Reichelt und Mathias Döpfner natürlich ganz und gar nichts zu tun haben. Mehr schwarz und weiß geht fast nicht mehr, wobei man sich wundert, warum der Stucki fast zehn Jahre gebraucht haben will, bis er gemerkt hat, was gespielt wird.
Das übliche Kritikervolk zeigte sich vom neuen Stucki ebenfalls nur mäßig angetan, so dass es keine Übertreibung ist, wenn man sagt: Die Auffassung, dass „Noch wach?” das wichtigste Buch des Jahres sei, die hat Klusmann ziemlich exklusiv. Vielleicht stand die Formulierung auch als zwingend im Kooperationsvertrag zwischen Spiegel und Verlag, was weiß man schon. Oder Stucki saß bei Klusmann auf dem Schoß und hat sie ihm nahegelegt. Nach allem, was man weiß, kann Stuckrad ganz gut mit Verlagschefs. Zumindest so lange, bis er ihnen öffentlich untersagt, ihn zu duzen, selbst wenn er Taufpate eines Kindes ist.
Narzissmus als Einstellungsvoraussetzung
Kleiner zweiter Schlenkereinschub dieses Textes: Natürlich sind solche Kapriolen nur möglich in einer Branche, in der Narzissmus zur Einstellungsvoraussetzung gehört. Eine Branche, die sich selbst für den Mittelpunkt des Planeten hält und sich selbst ansonsten ziemlich geil findet. Die hält natürlich ein Buch, in dem es ausschließlich um sie selbst geht, für das Wichtigste des Jahres, wenn nicht sogar des Jahrzehnts. Das ist übrigens dieselbe Branche, die etliche Jahre einem ausgekochten Betrüger Preise über Preise hinterher warf, weil sich die Geschichten so schön lasen. Und natürlich bekam das Team, das die Reichelt-Bild-Döpfner-Springer-Zustände aufgedeckt hatte, sofort einen Preis, obwohl selbst ein renommierter Branchendienst die Faktenlage als reichlich dünn bezeichnete. Neu aufgetauchte Nachrichten von Reichelt (den man wirklich nicht mögen muss) machen die Lage keineswegs besser. Aber das alles macht nichts, solange es die Richtigen trifft. Und mit Springer trifft es bekanntlich immer den Richtigen.
Dritter kleiner Schlenkereinschub des Textes: Für alle, die mit den Gebräuchen der Branche nicht vertraut sind – man muss wissen, dass die Branche sich selbst sehr gerne feiert und mit Preisen bedenkt. Und wenn es nicht die eigene Branche ist, dann lässt man sich gerne mit Journalistenpreisen aller möglichen anderen Branchen feiern. Momentan listet die Seite Journalistenpreise.de exakt 558 verschiedene Preise auf, die in diesem Jahr verliehen werden.
Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Journalistenpreis gewonnen und eine Zeitlang habe ich mich ernsthaft gefragt, was mit mir nicht stimmt. Inzwischen bin ich aber ganz froh darüber. Nehmen Sie also schlichtweg mit, dass es sich bei Journalisten und der zugehörigen Branche um eine sehr spezielle Spezies handelt.
Die Sache mit den Weltbildern
Eigentlich wollte ich ja gar nicht viel über Journalisten und ihre Macken schreiben. Aber sehen Sie: selbst in die Falle getappt. Und eigentlich ist das Thema dieses Textes nicht mal Axel Springer und auch nicht Julian Reichelt. Sonst würde man ganz schnell wieder in einer #MeToo-Debatte landen – und glauben Sie mir, das ist ungefähr das Letzte, was ich möchte.
Stattdessen geht es mir um das Thema Weltbilder im Jahr 2023. Darum, was sie mit unserer Sicht der Dinge zu tun haben und warum der Trend im Zeitalter des Algorithmus immer mehr dazu geht, Weltbilder und Haltung zu produzieren. Das tut dem Journalismus nicht gut, würde ich gerne schreiben, aber das klingt nach kulturpessimistischem Lamento, also vergessen Sie bitte den Satz wieder.
Weltbilder also. Ein gerne verwendetes ist, dass sie bei Axel Springer eine Ausgeburt des rechtskonservativen Teufels sind, in dem alte weiße Männer alles tun, was man von alten, weißen und rechtskonservativen Männern so erwartet. Deswegen (und nur deswegen) kommt der Spiegel zu der Einschätzung, “Noch wach?” sei das Buch des Jahres. Wenn ich den Spiegel inzwischen lese, habe ich ein gedrucktes (oder digitales), in jedem Fall sehr gefestigtes Weltbild vor mir, bei dem sie sich Blome, Neubacher und neuerdings René Pfister als konservative Zirkuspferde halten.
Geht mir, damit das kein Spiegel-Bashing wird, bei anderen übrigens genauso. Und damit Sie nicht meinen, das hier sei wieder ein handelsübliches Lamento darüber, dass 113 Prozent der deutschen Journalisten links-grün seien: Natürlich haben Sie bei der Welt und der FAZ ebenfalls ein klares Weltbild und bei der Bild sowieso. Der Punkt ist also weniger, ob es von dem einen oder anderen Weltbild zuviel gibt. Mich machen nur sehr gefestigte Weltbilder prinzipiell stutzig und bis vor kurzem dachte ich, das müsste bei Journalisten eigentlich immer so sein.
Aber dass es diese subjektivem Haltungen, diese Weltbilder gibt, das ist grundsätzlich nichts Neues. Die Geschichte von den streng objektiv über allem wachenden Journalisten war schon immer eine Mär. Und dass sie frei von allen verlegerischen und anderen Einflüssen seien, ebenfalls. Ich habe mich jedenfalls über die Please stärke die FDP und Kann man nicht mehr für die CDU tun- Nachrichten von Döpfner und Friede Springer nicht so sehr gewundert. Ich habe bei zwei großen bayerischen Tageszeitungen gearbeitet und sagen wir es mal so: Die Linie der Blätter war immer klar und dass ggf. auch mal Verleger eingreifen, das war auch klar. Bevor Sie denken, ich plaudere hier Jahre nach meinem Abschied aus Niederbayern Geheimnisse aus: Nein, nein, keine Sorge, das kann man nachlesen (davon abgesehen, dass das ohnehin jeder weiß).
Wie man das im Übrigen bewerten mag, überlasse ich gerne anderen. Ich will damit nur sagen, dass solche Verleger- und andere Vorgesetzte-Nachrichten keine neu aufgetretene Ungeheuerlichkeit des Jahres 2023 aus dem Hause Springer sind.
Also, die Sache mit den Weltbildern. Die ist an sich nicht neu, nur wird sie im digitalen Zeitalter nach meinem Eindruck massiv verstärkt. Ich kann das natürlich nicht belegen, nur so ein Bauchgefühl (warum hat Bernhard Pörksen dazu eigentlich noch kein Buch oder wenigstens ein 30.000-Zeichen-Essay in der Zeit geschrieben – oder hat er womöglich schon?).
Seit uns im Netz die Algorithmen fest im Griff haben, werden die Weltbilder immer gefestigter. Man könnte auch sagen „bornierter“, aber das wäre gleich wieder so negativ. Man muss sich ja nur mal Twitter anschauen; der Ort, der sich auch ohne den Einfluss von Elon Musk über die Jahre in eine Art Brüllhölle verwandelt hat.
Der großartige Ralph Ruthe beispielsweise hat sich unlängst von Twitter verabschiedet, nicht ohne seinen fast 700.000 Followern noch eine letzte Botschaft zu hinterlassen:
Social Media – oder: Du glaubst, was du glauben willst (und alle anderen sind doof)
Vor ziemlich genau sieben Jahren entstand die Theorie, dass die bösen Social Media die Wahl in den USA entschieden haben. Ob das stimmt, weiß ich nicht (Herr Pörksen, könnten Sie mal?). Allerdings bin ich mir sicher, dass in den USA, wie so oft, auch ganz ohne Algorithmen und Social Media ein Trend zu beobachten war und ist: Schau dir eine Stunde CNN an und eine Stunde Fox News – und du meinst, in zwei verschiedenen Welten zu leben. Dort ist man mittlerweile an einem Punkt, an dem Republikaner und Demokraten fast nicht mehr miteinander reden können. Vgl. auch Ruthe, Schulhof, Gebrüll.
Was allerdings ganz sicher stimmt: Die Demokraten dort haben 2016 auch deshalb gegen Trump verloren, weil sie es schlichtweg nicht für möglich hielten, dass es außerhalb ihrer Bubble noch anderes Leben gibt und dass dieses Leben groß genug ist, Donald Trump zu wählen. Vorsicht also vor allzu tiefem und selbstverliebten Versinken im eigenen Weltbild, fragen Sie hierzu gerne auch Hillary Clinton.
Soweit sind wir in Deutschland noch nicht, aber immerhin schon auf einem ganz guten Weg. Es gibt eine ganze Reihe von Themen, bei denen das Schulhofgebrüll vorprogrammiert ist. Zur Vermeidung des Letzteren erspare ich Ihnen eine Aufzählung dessen, empfehle aber sehr das Buch “Ein falsches Wort” vom konservativen Zirkuspferd René Pfister.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit fliegen bei solchen Debatten dann auch schnell beliebte Beschimpfungsstandards wie „alter weißer Mann” auf der einen und „linksgrün-versiffter Gutmensch” auf der anderen Seite durch die Gegend. Als jemand, der sich weder dem einen noch dem anderen zugehörig fühlt, steht man mittendrin im digitalen Schulhof und schüttelt den Kopf. Oder man macht den Ruthe.
Und damit wieder zurück zum wichtigsten Buch des Jahres. Zumindest zeigt die Spiegel-Kampagne für dieses Buch sehr schön, dass die Kritik an Social Media und Algorithmen vielleicht berechtigt, aber eben auch wohlfeil ist. Solange sich Journalisten jedenfalls so sehr und so erkennbar in den Dienst einer Sache stellen, sollten sie bei solchen Debatten lieber mal die Klappe halten.
Podcast D25
Angeblich scheitert ein beträchtlicher Teil von jungen Firmen nicht an mangelnden Ideen. Sondern an schlechtem Finanzmanagement. Das ist zum einen schade und wäre zum anderen vermeidbar.
Wie man sich finanziell vernünftig aufstellt, was die Pleite der Silicon Valley Bank womöglich alles ändert und wieso zu viel Geld im Markt gar nicht mal unbedingt von Vorteil ist – das alles in Folge 126 von D25. Unser Gast: Franz Salzmann, Founder und CEO von helu.io.
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