Es ist noch nicht so lange her, da habe ich in Videoseminaren meinen Teilnehmern immer eines gepredigt: Filmt nicht im Hochformat, selbst wenn ihr mit euren Smartphones unterwegs seid. Ich hatte allerlei hübsche Begründungen dafür parat und immer zum Schluss habe ich den Teilnehmern ein Video gezeigt, in dem erklärt wurde, dass das „Vertical Video Syndrom” der Anfang sämtlichen Video-Übels sei. Großes Gelächter meistens, war ja auch einleuchtend (wenn Sie es nicht glauben, schauen Sie es sich gerne selbst an).
Würde ich das heute noch machen (was ich natürlich nicht tue), würde ich vermutlich von den Teilnehmern sofort heftigen Widerspruch ernten; selbst dann, wenn sie mit Videos gar nichts am Hut haben. Zu sehr ist das Vertikal-Video im Mainstream angekommen. Jüngere Menschen würden sich womöglich die Frage stellen, ob das jemals anders gewesen ist.
Dabei ist diese Geschichte mit dem Hochformat mehr als eine technische Frage; es geht nur sehr vordergründig darum, wie rum man seine Kamera denn nun hält. Stattdessen hat sich mit den 9:16-Dingern eine eigene Kunstform entwickelt. Eine, bei der es sich lohnt, sich mit ihr auseinanderzusetzen, selbst wenn man sie persönlich vielleicht gar nicht mag.
TikTok und eine aufrichtige Hassliebe
Kleiner persönlicher Einschub: Mit dem Format verbindet mich eine aufrichtige Hassliebe. Natürlich sehe ich das Potenzial dahinter. Selbstverständlich bemerke ich, dass es da oft kleine Kunstwerke gibt, gut gemachte 30- oder 60-Sekünder. Ich sehe schon auch, dass diese Shorties eine Art Echtzeit-Medium sind, mit dem großen Vorteil, dass man Dinge nach 24 Stunden auch einfach wieder verschwinden lassen kann. Shorties sind wie gemacht für die Kombination aus Mobile Device und Social Media. Und wer wollte bezweifeln, dass diese Kombination mittlerweile zum Standard geworden ist?
Auf der anderen Seite: Das Zeug ist wie Popcorn. Oder Chips. Fängt man mal damit an, ist es schwer wieder aufzuhören. Das anschließende Gefühl, dass man seine Zeit verschwendet hat, weil man alles in allem nichts wirklich Sinn- und Erkenntnisreiches getan hat, das kommt Ihnen bekannt vor, ja? Der Algorithmus von kleinen Höllenmaschinen wie Tik Tok aktiviert unser Belohnungszentrum und damit leider auch unser Suchtpotenzial. Und auch das ist wie bei der Sucht: Je mehr man davon benutzt, desto größer wird die Abhängigkeit. Der Algorithmus ist schließlich schlau. Mit jedem Video, das du schaust, weiß er noch ein kleines bisschen besser, was du magst. Und das nutzt der kleine Bastard gnadenlos aus. Meine Lieblings-Rechnung geht immer noch so: In einer durchschnittlichen Session von 11 Minuten sieht der TikTok-User 26 Videos. Und der Algorithmus bekommt 26 neue Daten, neue Impulse. Es dauert nicht lange und er kennt dich besser als du dich selbst, leider.
Was wir dabei ebenfalls sehen: Social Media ist im größten Veränderungsprozess seit vielen Jahren. Ganz egal, ob eine einstige Fotoplattform wie Instagram, ein eher textbasiertes Old-School-Netzwerk wie Facebook, ein Videonetzwerk wie YouTube und inzwischen sogar bei journalistisch getriebenen Seiten wie “Spiegel Online”: Sie sind alle ein bisschen TikTok. Mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Aber die Idee ist überall die gleiche: Lass dich berieseln, wir füttern dich mit kleinen Videohäppchen.
Ob es uns also passt oder nicht: Wir müssen uns langsam ernsthaft mit dieser Art von Storytelling und Content auseinandersetzen. Die wirklich guten Formate sind nie irgendein Abfallprodukt, weil jedes Format seine eigenen Anforderungen hat. Im Falle der Shorties heißt das in erster Linie: Sie sind Videos im erweiterten Sinne. Animationen, Fotos, Filter, Texte, Musik, alles verschwimmt zu einem bisher noch nicht gekannten Mix. Sie sind schnell, unmittelbar, für den sofortigen Gebrauch gedacht. Was ja dann auch wieder was Schönes an sich hat: Gibt es etwas Langweiligeres, als immer das Gleiche zu machen? Also, rein ins Video-Getümmel!