Sie sind noch bei Facebook unterwegs? Dann sind Sie entweder wie ich ein etwas älteres Semester. Oder veränderungsresistent oder beides. Nur, dass Sie wirklich ein richtiger Facebook-Fan sind, das wird zunehmend unwahrscheinlich. Read More
Immer, wenn ich bei Veranstaltungen über die Schnelllebigkeit und Vergänglichkeit von sozialen Netzwerken sprechen und dann auch noch ein bisschen originell sein will, erzähle ich von früher. Meinem Alter angemessen geht es dabei um solche Kracher wie My Space oder StudiVZ. Bei den Älteren sorgt das meistens für nickendes Lächeln. Die Jüngeren staunen dann, zumindest bilde ich mir das ein. Vielleicht denken Sie auch nur: Opa erzählt wieder vom Krieg.
Allerdings wird es vermutlich Zeit, dass ich mein Geschichten-Repertoire anpasse. Aufstieg und Untergang von MySpace und StudiVZ sind jetzt schon rund 20 Jahre her, das ist im digitalen Leben ein gefühltes Centennium. Letzte Woche hat es mir gedämmert: Ich muss wohl die Namen der Dahingeschiedenen ersetzen durch Facebook. Und zudem gleich auch noch die Idee verabschieden, ein Gemischtwarenladen mit ganz vielen “Postings”, die für immer in einer Timeline potentiell für die ganze Welt abrufbar sind, sei eine sonderlich sinnvolle Strategie.
Nicht aufregen, bevor Sie es sagen, ich weiß es ja auch: Facebook hat immer noch Milliarden Nutzer auf der ganzen Welt und ist von einer sofortigen Pleite weit entfernt. Aber Facebook hat ein anderes Problem: Es ist Out of Time (Sie verzeihen den Anglizismus, es ist nur mein heimlicher Ehrgeiz, in meinen Texten immer ein paar popkulturelle Anspielungen und idealerweise ein paar Stones-Songs unterzubringen). Facebook ist seit 2005 immer das Gleiche: Eine gigantische Pinnwand, an der man mehr oder minder geschriebene Notizen hinterlässt. Inzwischen natürlich mal angereichert mit einem Video, einem Audio. Aber im Prinzip: textlastig. So chic wie ein Postit-Zettel.
Dabei: Wer wäre ich, Angebote zu kritisieren, die auf Texten basieren? Ich liebe gute Texte und umgekehrt geht mir persönlich die Zappeligkeit und die billigcomichafte Anmutung von Reels und Stories tendenziell auf den Keks. Sieht man mal davon ab, dass man nach zehn Minuten Reels-Schauen kurz vor der partiellen Verblödung steht, machen diese Formate die Neigung zur Banalität noch größer. Bei einem Großteil frage ich mich, was zur Hölle einen Menschen glauben lässt, dass es irgendjemanden auf der Welt gibt, den das interessieren sollte. Auf der anderen Seite bin ich nur ein alter Mann aus einer anderen Zeit und der, nunja, Erfolg, der Reelstories gibt ihnen ja recht.
Außerdem ist mir dann aufgefallen, dass meine hübsche Idee (ich war ja mal so stolz auf diese Erkenntnis!) man müsse viel in Gruppen und anderen nicht-so-öffentlichen Bereichen unterwegs sein, um zu reüssieren, auch schon wieder von gestern ist. Ich bin aktuell in mehreren Facebook-Gruppen unterwegs, von denen ich dachte, ich könnte dort meinen ganzen Business-Kram unterbringen und die private Timeline halbwegs privat halten. Blöd nur, dass die Gruppen auf dem Papier zwar ein paar Tausend Mitglieder haben, dass dort de facto aber nicht sehr viel passiert. Ab und zu postet noch jemand etwas, aber das war es dann auch schon. Kommentare, Debatten, Interaktionen? Ungefähr so selten wie ein brauchbarer Song von Coldplay (Popkultur!).
Das ist, wir Älteren wissen das nicht nur aus Studien, sondern aus Lebenserfahrung: ein Beleg für den schleichenden Niedergang. So ging das damals auch los bei den Blogs, von denen man vor 20 Jahren mal dachte, sie seien die Zukunft des Publizierens. Plötzlich landeten die Kommentare, die Anschlusskommunikation nicht mehr auf den eigentlichen Blogs, sondern bei Facebook. Das schien anfangs absurd, aber so ist halt der Lauf der Welt. Man schreibt einen Blog-Beitrag, postet ihn bei Facebook, die Leute lesen auf dem Blog und kommentieren dann wieder bei Facebook. Daraus entwickelte sich dann die Theorie, das künftig alle gesellschaftlich halbwegs relevanten Diskussionen bei Facebook stattzufinden haben, was man alleine beim Lesen etlicher Kommentar-Threads dortselbst für eine unangenehme Vorstellung halten muss. Jedenfalls: Die Blog-Debatten waren dann schnell tot, es lebe Facebook.
Heute müsste man aus dem Blog-Beitrag ein Reel machen. Oder zumindest eine Story, ein schnittiges Video für Insta. Oder man geht gleich zu TikTok. Sie halten das für Nonsens? Dabei ist es nur ein DejaVu. Die Karawane zieht weiter, der Zeitgeist ist sowas von Anti-Facebook und Anti-Textposting, dass Mark Zuckerberg aus lauter Verzweiflung jetzt ein Metaversum bauen will.
Das Posting von heute? Stories und Reels, irgendwas mit Bewegtbild und Foto
Die Welt ist eine Story, ein Reel, was zum Anschauen, zumindest in den sozialen Netzen. Sie ist Tiktokisiert, das ist nicht mehr aufzuhalten. Der Einfluss von TikTok auf unsere Art des Kommunizierens (und auch des Wahrnehmens) ist jetzt schon riesig groß – und er wird weiter wachsen, TikTok wird irgendwann mal buchstäblich monströs werden, in vielerlei Hinsicht; vielleicht so monströs, dass wir irgendwann mal sagen werden: Weißt du noch, dieses Facebook, ach, was für schöne Zeiten!
Schnell am Rande: Man könnte jetzt hier an dieser Stelle lange darüber fabulieren, warum TikTok bald das mächtigste Social-Media-Werkzeug der Welt sein wird und warum selbst Giganten wie Netflix den Machtzuwachs von TikTo nicht kalt lassen kann. Aber das wäre dann schon wieder Thema für einen eigenen Text.
Wie auch immer, TikTok, Snapchat und Instagram haben in den letzten Jahren unsere Art, wie wir (soziale) Medien konsumieren, erheblich verändert. Sie ist visueller, bewegtbildhafter geworden. Da brauchen Algorithmen gar nicht mehr groß nachzuhelfen, die Gewohnheit ist groß genug. Selbst bei uns Älteren und manchmal sogar bei mir stelle ich fest, dass wir inzwischen uns gerne mal dauerberieseln lassen aus dem Stream des Minimal-Contents. Dagegen ist das in den 80ern und 90ern groß gewordene und tendenziell verpönte Zapping im TV Kindergarten.
Minimal-Content mit maximal viel Daten
Schnell mal durchgerechnet, damit man die Dimensionen sieht: Gehen wir mal davon aus, dass eine durchschnittliche Session bei TikTok 10 Minuten dauert. Und dass ein Video im Schnitt 25 Sekunden lang ist. In 10 Minuten, die man durch 25 Sekunden teilt, kommt man auf rund 24 Videos, die man in einem solchen Kurzausflug sieht. Das reduziert die Möglichkeiten des Content Creators, irgendwas halbwegs Sinnvolles mitzuteilen, natürlich extrem. Was es mit der Aufmerksamkeitsspanne der User und mit ihrem Hirn macht, weiß ich nicht, aber man muss weder Kulturpessimist noch Wissenschaftler sein, um sich zumindest vorstellen zu können: Es verändert etwas in der Wahrnehmung.
Und nochmal nebenher bemerkt: Da entsteht, angetrieben durch die User-Daten, ein tiktoktotales Perpetuum Mobile. Die Algorithmen werden so befeuert, wie es die Welt noch nie gesehen hat. Wenn man ein paar Tage in irgendwelchen Reel- und Storywelten unterwegs ist, wird man sehen: Man bekommt immer mehr und mehr und noch mehr vom Stoff. In meinem Fall sind es Videos der Stones, von Hundewelpen, Fußball. Und von Bernd Stromberg. Das muss nichts Schlechtes sein, Stones-Videos sind per se gut und Stromberg immer lustig. Dumm nur, dass ich nach sieben Stones-Schnipseln, vier Stromberg-Zitaten, zwei Ibrahimovic-Fallrückziehern und zwei knuffigen Welpen, die von mir adoptiert werden wollen, weder Zeit noch Lust habe, irgendwas anderes im sozialen Netz zu machen. Wer braucht ein betuliches Text-Posting, wenn er Hundewelpen und Keith Richards haben kann?
Und kannst du überhaupt noch mit Verstand lesen (und schreiben), wenn dein Hirn gerade mal in zehn Minuten hunderten optischen Reizen ausgesetzt war?
Wenn du zum Tummelplatz für Wutbürger wirst, geht es dahin mit der Relevanz
Und damit wieder zurück zu Facebook. Das ist das Ding, das angesichts der Stories und Reels fast schon wieder rührend antiquiert wirkt. Wie eine Medienwelt von gestern, was man im digitalen Leben auch übersetzen könnte mit: Das ist irgendwie so 2016. Eine Welt, die schon noch da ist, aber irgendwie auch nicht mehr.
Facebook hat mir beispielsweise die Tage aus mir nicht bekannten Gründen ein Posting eines einigermaßen rechts stehenden Populisten (hat aber immerhin zwei Doktor-Titel) in die Timeline gespielt. Eine Texttafel, bestehend daraus, dass sinngemäß Gendern doof sei und ARD und ZDF Gesinnungsterroristen, die uns alle umerziehen wollen.
Das Posting war für mich der ungewollte Beleg dafür, wie die Facebook-Welt langsam verblasst. Ein gut über 60 jähriger postet eine Texttafel, tausende Wutbürger regen sich auf, kommentieren darunter, teilen fleißig – und niemand außerhalb der Wutbürger-Bubble nimmt es noch wahr. Facebook, der Scheinriese. Tausende Shares, Likes, Kommentare und null Relevanz. So gehen einstmalige Imperien unter. Mark Zuckerberg weiß vermutlich ziemlich genau, warum er seine Energien auf ein Metaversum verwendet und an Facebook nur so viel Renovierungsarbeiten vornimmt wie ein Hausbesitzer, der noch ein paar Jahre in der Hütte wohnen will und sie irgendwann ihrem Schicksal überlässt. Glauben Sie nicht? Sagt er aber selbst so, zumindest intern.
Vermutlich also wird es diese Geschichte sein, die ich künftig vermehrt erzählen werde. Wie nach MySpace und StudiVZ der nächste vermeintlich unangreifbare Gigant träge wurde und den Zeitgeist völlig versäumt hat. Wie ihn schnelle und innovative Herausforderer mehr und mehr in die Ecke gestellt haben und ihn grau und verstaubt aussehen ließen. Wie die User in die innere Migration und sich verabschiedeten, ohne jemals zu kündigen. Die Stories und die Reels, die Facebook verpasst hat, die Visuellwerdung des sozialen Netzes, das war der Anfang vom Ende. Am Ende war Facebook wie ein Texttafel-Posting: Nett, das hatte man mal so.
Und ganz am Ende wird die Story von Facebook einmal eine sein, die bezeichnend ist für die Digitalisierung insbesondere von Medien. Der eine geht. Der andere kommt, er wird ein Konzern sein, dessen Gewinne und Suchtpotentiale unsere Fähigkeit übersteigen, es zu kontrollieren.
Sie haben übrigens gerade lange durchgehalten. Dafür danke und Glückwunsch. Es sei denn, Sie haben zwischendrin zum Handy gegriffen und schnell ein paar Stories geschaut.
Hab’s bis zum Ende gelesen. Wurde nur einmal von einem Echtzeit-Telefonanruf(!, bin alt, kenne alte Leute) unterbrochen. Guter Text.
Ein Kommentar! Im Blog! Muss ich sofort ne Story draus machen!
Aber klar. Gibt es kaum noch.
Ich habe die Hoffnung, dass es zu einer stark übersteigerten Tendenz auch immer einer Gegentendenz geben wird. Längere Blog Beiträge, Bücher und Videos mit Inhalt sind im Kommen.
Wenn Kate Bush an der Spitze der Hitparaden (gibt es das Wort überhaupt noch?) steht, und die Rolling Stones immer noch vor zehntausenden von Menschen „Out of Time“ zum Besten geben, dann ist die Welt noch nicht ganz tiktokisiert.
Obwohl mir die Out-of-Time-Version von Chris Farlowe noch besser gefällt…
Danke für den Kommentar, aber das Stones-Original von Out of Time ist natürlich unschlagbar ;-)!