Träumen Sie gerade von einem Treffen mit anderen im Metaversum? Wünschen Sie sich Second Life zurück? Nein, etwa nicht? Dann haben Sie sicher auch eine Ahnung, warum VR und AR immer noch auf den großen Durchbruch warten, der möglicherweise nie kommt. Zumindest nicht so, wie ihn sich Meta und Co. vorstellen. Read More
Vor ein paar Jahren habe ich mir im Blog regelmäßig kurz vor Beginn eines neuen Jahres Gedanken über die kommenden Trends gemacht (das habe ich irgendwann aufgehört, weil es alle gemacht haben). An eine dieser Trend-Prophezeiungen erinnere ich mich besonders gut – weil es um etwas ging, was ich ausdrücklich nicht in meine Liste aufgenommen hatte.
Es ging um das Thema Virtual Reality bzw. Augmented Reality. Eine damals noch halbwegs junge Dame, damals wie heute hauptberuflich zuständig für das Erkennen und Vermitteln von Medientrends, ließ mich in einem Kommentar wissen, ich habe das Thema VR/AR wohl “vergessen”, zwinkersmiley. Hatte ich nicht, ich glaubte einfach nicht daran.
Sagen wollte die Dame damit vermutlich, dass ich vom Thema leider keinerlei Ahnung habe. Falls Sie sich übrigens wundern: Das war irgendwann in der Mitte des nunmehr auch schon wieder länger zurückliegenden letzten Jahrzehnts, damals kam es ab und an noch vor, dass jemand einen Kommentar in einem Blog hinterließ. Heute würde daraus ein Twitter-Thread. Oder eine Umfrage bei LinkedIn. Ist AR die Zukunft? Ja, ja, ganz sicher, Selbstverständlich, sowas von verdient.
Sorry fürs Abschweifen und zurück zum Thema.
Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ziemlich viele Menschen, die hauptberuflich zuständig für das Erkennen und Vermitteln von Medientrends sind, VR und AR und alles Artverwandte wie beispielsweise ein Metaversum nicht auf die Liste der kommenden Top-Trends gepackt hätten. Jedes Jahr das gleiche, erstaunliche Spiel: VR und AR (und das Metaverse) stünden demnächst vor ihrem endgültigen Durchbruch. Weil die Hardware besser wird, weil es endlich Anwendungen dafür gibt, weil die Menschheit darauf wartet. Das klappt dann aber doch nicht und wird auf das kommende Jahr verschoben oder auf das darauf. Erstaunlich, dass sich diese Geschichte so hartnäckig hält.
Nett, aber nicht wow. Kann man haben, muss man nicht.
Erstaunlich auch deshalb, weil sie von einer Annahme ausgeht, die man zumindest bezweifeln kann. Nämlich die, dass die Nutzer nur darauf warten, dass es endlich den Durchbruch von VR und AR gibt. Dabei könnte man mit gutem Gewissen sagen: Nein, genau das tun sie nicht. Und wer sich in den vergangenen 20 Jahren mit den immer wieder auftauchenden Brillen, Boxen, Schachteln, Second Lifes und Metaversen beschäftigt hat, der sieht auch schnell, warum das so ist: Bisher waren die Anwendungen klassisches Nice to have. Nett, manchmal sogar erstaunlich gut. Aber nichts, was einen Wow-Effekt auslöst. Dieses Gefühl: Das muss ich haben, jetzt sofort!
Kleiner Schlenker: Bis 2026 sollen weltweit ca. 50 Millionen Brillen verkauft werden. Nochmal zum Zungeschnalzen: 50 Millionen. Weltweit. Zum Vergleich: 60 Millionen Smartphones gibt es alleine in Deutschland. Allzu viel Euphorie herrscht in diesem Markt also mal nicht.
Erinnert sich noch jemand an 3D-Kino? Vermutlich aus dem selben Grund nicht: Interessant, sich das mal anzuschauen, aber man fand es dann wieder völlig ok, den guten, alten 2-D-Film zu sehen. Die Wellen solcher Spielereien kamen immer wieder (und genauso schnell waren sie dann auch wieder weg).
Die Leute hatten nicht mal Lust, sich kostenlose Papp-Brillen aufzusetzen. Und jetzt sollen sie mehrere Hundert Euro ausgeben, um bei einer Spielerei dabei zu sein, deren Wert sie noch nicht ganz verstehen, wenn sie nicht gerade Hardcore-Gamer sind?
Oder Second Life: Kam ganz schnell, ging noch schneller, so wie alle klassischen Hypes. Und, noch so ein klassischer Hype-Indikator: Second Life verschwand auch deswegen wieder so schnell, weil niemand so recht den eigentlichen Mehrwert erklären konnte.
Pokemon Go: sollte unsere Wahrnehmung der Realität ändern und den Weg in die Zukunft der VR ebnen. Spielt das noch jemand? Falls nein, gilt auch hier die Hype-Beschreibung.
Google Glass: nie an den Start gegangen, wer will sich schon als “Glasshole” beschimpfen lassen?
VR-Brillen aller Art: gerne, wenn Sie ein knappes Kilo Gewicht am Kopf rumschleppen und dafür ein paar hundert Euro zahlen wollen.
Aber, mögen Sie einwenden, da ist doch noch die Sache mit Apple. Die wollen doch immer noch was mit Brille und Headset machen. Und wenn die schon dran glauben…
Mag sein, aber erstens: Für vergangenen Dienstag rechnete die halbe Welt mit irgendwas Neuem zu Apple und VR. Gezeigt und gesagt wurde: exakt nichts. Jetzt, so heißt es, sei mit einer Veröffentlichung im zweiten Halbjahr 2023 zu rechnen. Begeisterung klingt anders (und Marktreife auch).
Intern, so heißt es, habe es bei Apple schon vor Jahren Zweifel am Sinn solcher Headsets gegeben. Zu klobig, Menschen seien darunter isoliert, irgendeine gemeinsame Nutzererfahrung, eine Interaktion mit anderen per se undenkbar. Und außerdem sieht man bekloppt aus damit.
Man darf übrigens gerade letzteres nicht unterschätzen. Speziell Apple hat immer den Wert der Optik erkannt. Die AirPods mögen nicht die besten Kopfhörer des Planeten sein, gelten aber inzwischen als trendiges Lifestyle-Accessoire. Und eine Watch ist ebenso etwas, was man gerne herzeigt. Und das iPhone ist die Mutter des Lifestyles. Nicht mal Apple würde ernsthaft abstreiten, dass es nicht Handys gäbe, die dem iPhone ebenbürtig oder überlegen sind. Aber es sind halt keine iPhones.
Kann sich jemand ein Headset als chices Lifestyle-Tool vorstellen? Würden Sie damit auf die Straße gehen wollen?
Trotzdem wetten anscheinend viele, vor allem Mr. Zuckerberg darauf, dass eine Kombination aus VR und AR die nächste große Phase des Internets sein wird. Apple, Meta, Microsoft und Snap glauben daran, dass wir das physische und das digitale Leben verschmelzen. (Sie und Mark Zuckerberg können das Metaversum nennen, ich nicht.) De Idee wirkt noch kurioser angesichts dessen, dass viele Menschen nach über zwei Jahren schon blitzartige Abneigung gegenüber einem Zoom-Meeting entwickeln.
Und der Effekt der großen virtuellen ABBA-Show in London ist ausschließlich der, dass man sich nochmal in eine Zeit zurückbeamen kann, die es mal gab und die nie wieder kommen wird. Eine Art Kino. Ein Einmal-Effekt, ein Konzert bleibt weiter ein Konzert (ich war letzte Woche bei den Stones, ich weiß, wovon ich rede).
Der Vorläufer von VR: das “interaktive” Fernsehen
Das alles ist ein bisschen so wie das interaktive Fernsehen, an das die Branche dreI Jahrzehnte lang geglaubt hat, mal mehr, mal weniger. Weil man dachte, die Zuschauer würden danach gieren, in die Handlung eines Films einzugreifen, während des Krimis noch Zusatzinformationen zu bekommen oder sich die Hose zu kaufen, die Julia Roberts gerade in Pretty Woman trägt. Es gab sogar mal Monster-Strategen die ernsthaft an ein Fußballspiel mit weltbekannten Teams dachten, bei dem der Zuschauer per Voting die Ein- und Auswechslungen bestimmt. Wollten Sie nicht, wie man heute weiß. Vermutlich auch deswegen, weil das keinerlei Sinn ergeben hätte.
Falls Sie jetzt lachen: Doch, daran hat man wirklich mal geglaubt. Nicht in kleinen Hinterhof-Klitschen, sondern in riesigen Konzernen, die für solche Spielereien sogar mal eigene Firmen wie Kirch New Media oder die Bertelsmann Broadband Group gründeten. Würde heute jemand RTL vorschlagen, man könne eine Technologie entwickeln, mit der Menschen direkt das Zeug aus einem Film shoppen sollen, er würde die gleichen Blicke ernten wie jemand, der bei Google die Entwicklung einer AR-Brille anregt.
Verblüffend, nicht wahr? Manchmal setzen sich Konzerne irgendwas in den Kopf, nachgewiesenermaßen nicht sonderlich kluge Ideen, die auf dem Reißbrett entstehen. Und von denen man glaubt, man müsse den Leuten nur deutlich klar machen, wie toll die Idee ist.
Dabei sind Menschen gar nicht so kompliziert gestrickt. Sie finden Fernsehen, so wie es ist, immer noch gut. Sie wollen auf ihrer Couch liegen und schauen, manchmal ist es wirklich so einfach, auch wenn damals irgendwelche Berater so schöne Begriffe wie “Lean Back” und “Lean Forward”-Modus beim Fernsehen erfanden. Lean Forward beim Fernsehen? Lustige Idee. Man lehnt sich höchstens nach vorne, um die Fernbedienung zu holen. Und hey, das Ding, was gerade enorm boomt, sind: Podcasts. MP3-Dateien auf dem Handy, so einfach.
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Nicht also auf den Harvard-Absolventen oder den Ex-BCG-Mann mit seinen Powerpoints und seinem Wortgeklingel hören. Sondern auf, so simpel, das, was der Konsument sagt. Erschließt sich ihm der Nutzen einer Technologie, eines Produkts? Beim Smartphone: ja klar, sofort zu verstehen. Bei den AirPods: großartig, endlich keine Kabel mehr.
Und jetzt kommen Sie: Was genau ist der Mehrwert eines (nennen wir es ausnahmsweise mal so) Metaversums?