Analog oder doch lieber digital, linear oder on demand? Solche Debatten sind unsinnig, wir haben sie viel zu lange geführt. Das Medium der Zukunft ist eine Plattform, für alle und alles. Read More
Irgendwann mal ersetzen neue Medien alles. Und die alte Theorie, dass noch nie ein Medium durch ein anderes komplett abgelöst wurde, die kann man auch vergessen. Weil: Das Internet macht alles neu.
Es waren nicht ganz wenige Menschen, die an diese Theorie in den vergangenen Jahren geglaubt haben. Ich habe auch dazu gehört, weil der Gedanke so bestechend klar schien: Wer braucht noch eine gedruckte Zeitung, wenn er sie digital lesen kann? Warum Fernsehen, wenn es Streaming gibt, warum Musik auf Datenträgern im Zeitalter von Spotify? Und ersetzt dieses Spotify genau genommen nicht auch das gute, alte Radio?
Angekommen im Jahr 2022 und weil wir gerade von Spotify und Netflix reden: Nein, so einfach ist das nicht. Zumindest nicht, wenn man sich vorstellt, dass das eine einfach das andere überflüssig machen würde. Wenn irgendwann mal Netflix und Spotify Radio und TV zu starke Konkurrenz sein sollten, dann nicht, weil niemand mehr lineare Programme haben will. Im Gegenteil: Wenn, dann deswegen, weil sich die Streaming-Dienste noch eine lineare Variante verpassen.
Video, Audio, egal: Aus dem Streamingdienst wird eine Plattform
In dieser Woche habe ich zu diesem Thema zwei Geschichten gelesen, die zeigen, wo es lang geht. Die erste:
Spotify verpasst sich selbst eine deutlich stärkere Live-Komponente. Und das ist – genau: nichts anderes, als ein Schritt zu klassisch linearem Programm. Bisher dachten wir ja alle, dass die Themen live und linear zwangsweise Radio und TV vorbehalten seien. Aber spätestens seit dem Clubhouse- und Livestream-Boom der Pandemie wissen wir, was ohnehin offenkundig gewesen wäre. Natürlich kann man live und linear auch über einen Streaming-Dienst machen. Spotify ist also auf dem Weg zu einer Art Radio der Zukunft: eine Audio-Plattform, die alles sein kann, Musikstreaming, Podcast-Anbieter, Hörbuch-Bibliothek und jetzt eben auch Liveprogramm. Vergesst also den Gedanken, dass es sich bei Spotify und anderen nur um Musikabrufdienste handelt. Wäre ich Radio-Manager, würde ich weitaus mehr Spotify im Auge behalten als irgendein Konkurrenzprogramm, das eventuell bei den Verehrsmeldungen immer einen Tick schneller ist. Radio der Zukunft – das ist eine Audio-Plattform. Mit dem besten aus beiden Welten.
Geschichte Nummer 2:
Netflix verpasst sich, guess what, eine Live-Komponente, zum allerersten Mal. Noch ist das kein klassisches lineares Programm, aber in den Markt ist ja beispielsweise Amazon Prime mit seinen Fußball-Übertragungen schon eingestiegen. Um nicht den kompletten oberen Absatz zu wiederholen: Streaming wird künftig mehr sein als eine Online-Videothek, wie man das in den Anfangsjahren ja gerne mal nannte. Es wird sich dem klassischen TV über kurz oder lang annähern, so wie es umgekehrt das klassische TV ja auch macht. Mediatheken, ein sehr biederdeutsches Wort übrigens, sind nichts anderes als Streaming. Was wir heute also noch fein säuberlich trennen zwischen TV und Streaming, das werden künftig Bewegtbild-Plattformen sein, irgendwo im digitalen Raum.
Netflix will übrigens auch noch eine werbefinanzierte und kostenlose Variante einführen. Das mag man für eine gute oder auch schlechte Idee halten, tatsächlich aber nähert sich der Streaming-Riese damit auch in Sachen Geschäftsmodell dem linearen TV an. Die Idee ist: Plattform. Nicht VoD.
Die alten Ideen sind nicht tot, sie werden nur in die digitale Zeit übersetzt
Das ist ein Phänomen, das sich über alle Mediengattungen hinweg verfolgen lässt. Die Idee einer Tageszeitung beispielsweise ist nicht tot, nur weil sie künftig weniger gedruckt, denn irgendwie digital erscheint. Sie lebt deswegen, weil der Gedanke, dass man irgendwann mal, zu einem fixen Zeitpunkt des Tages (oder auch der Woche) eine Zusammenfassung, einen Stand der Dinge zu bekommen, immer noch relevant ist. Momentan, im Zeitalter der Ticker, der Breaking News und der reißenden Social-Media-Ströme, umso mehr. Einmal am Tag die Zeitung, die Nachrichten, einmal die Woche der Überblick, das ist immer noch eine gute Idee. Das muss man nicht mehr drucken, man muss es nicht mal mehr aufschreiben.
Mein Lieblingsbeispiel ist immer noch das großartige Rolemodel der New York Times, deren größter Erfolgsgarant neben vielen anderen immer noch ist, dass sie eine grundlegende Sache dort kapiert haben: Die Idee der hochwertig aufbereiteten und regelmäßig erscheinenden Information ist immer noch da und sie wird es auch bleiben. Nur muss es nicht mehr Papier sein. Die NYT setzt inzwischen mehr Geld mit ihrem Digitalgeschäft um als mit Print. Und mit “The Daily” zeigt sie zudem noch jeden Tag, wie man mit einem Podcast die Idee des täglichen Updates auch als Podcast relevant umsetzen kann. Die NYT ist zu groß, um mal eben als maßstabsgetreuer Nachbau gestaltet zu werden. Die grundsätzliche Idee ist trotzdem für alle relevant. Was die NYT ist? Eine Plattform für Qualitätsjournalismus.
Spannend auch: Bei der NYT ist der Prozess genau umgekehrt verlaufen wie bei den Streaming-Diensten. Dort hat sich ein Unternehmen aus der alten Welt die digitale Welt zu eigen gemacht und ihre Geschäfts- und Inhaltemodell dorthin transformiert. Womöglich ist das auch der entscheidende Punkt. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, um digital oder analog, linear oder on demand.
Am Ende treffen wir uns alle irgendwo in der Mitte, natürlich in erster Linie in einem digitalen Raum, in dem wir alte und neue Ideen umsetzen. Was zählt, ist die Idee, ist die Plattform. Die Debatte über den richtigen Datenträger können wir in die Ecke stellen.
Was auch langsam Zeit wird. Es ist 2022.