Journalisten und andere Medienmenschen hatten früher einen ebenso simplen wie klaren Auftrag: Mach guten Content, der Rest kommt von alleine. Ersteres ist immer noch das Kerngeschäft, zweitens stimmt leider nicht mehr. Read More
Die Tage sind mir zwei Sachen aufgefallen. Mehr oder weniger zufällig und beide hatten zumindest auf den ersten Blick auch nichts miteinander zu tun. Das eine: TikTok, mal wieder. Das andere: OMR 22, die Online Marketing Rockstars, die sich in Hamburg so zelebrierten, wie sie sich fühlen, als echte Rockstars nämlich.
Dass das eine mit dem anderen dann doch zu tun hat, dämmerte mir dann erst später.
Fangen wir erstmal mit den marketingtreibenden Rockstars an, die zumindest eine Meisterleistung hinbekamen: Man ist ihnen in der vergangenen Woche nicht entgangen. Selbst dann, wenn man, wie ich, mit Online-Marketing wenig bis nichts am Hut hat. Aber die Timelines bei LinkedIn und überall sonst waren geflutet mit #OMR22, mit Foto, Videos und meistens mehr, allerdings manchmal auch weniger euphorischen Postings.
Marketing-Rockstars, so viel nahm ich als erstaunter Außenstehender wahr, finden sich selbst anscheinend ziemlich geil. Die Bugwelle, die die OMR vor sich herschob, war jedenfalls so groß, dass sogar Groß-Medien wie der “Spiegel” an einer Geschichte kaum vorbeikamen. Allerdings konnten sich “Spiegel” und auch einige andere sanften Spott nicht verkneifen, der “Spiegel” notierte unter der schönen Überschrift “Ein wilder Ritt durchs Buzzword-Land” das Folgende:
“Das OMR Festival ist ein Zwitter: tagsüber ein Buzzword- und Promi-Wunderland, mit Stargästen wie dem Musiker will.i.am und dem Regisseur Quentin Tarantino, abends eine Großraumdisco mit Auftritten von Künstlern wie Oli P. und Marteria. Zu fast jedem Digitalthema, das entfernt nach Zukunft und Geldverdienen klingt, findet man Vorträge. Die Talks auf den rund 30 Bühnen klingen wie aus einer Parodie auf eine solche Konferenz: »Wie Marken erfolgreich im NFT-Space sein können«, »Marketplaceification – Warum Marktplätze jede Branche dominieren werden« oder »Unleash the power of the Metaverse«. Auch der Titel einer Party lautet »Ready for Metaverse«. Davon abgesehen geht es viel um TikTok und Influencer-Marketing, doch kontrovers wird es selbst bei als kontrovers geltenden Themen wie NFTs und dem sogenannten Web3 selten.”
Kleiner Einschub: Gerade das Thema Metaverse zeigt mir, wie gerne und wild euphorisch man sich in Rockstar-Kreisen auf Buzz-Themen stürzt. Kann man machen, muss man aber nicht, wie ich in der vorletzten D25-Folge mit dem deutlich reflektierteren Kollegen Thomas Knüwer bespreche. Mag allerdings daran liegen, dass Thomas Knüwer und ich beide gelernte Journalisten sind, da neigt man nicht zur Euphorie; nachzuhören u.a. hier bei Spotify.
Der Buzz ist wichtig, aber mit Show alleine schafft man nicht viel
Aber kommen wir nochmal zurück zu den Rockstars. Inhaltlich kann man das alles erstaunlich flach finden und das ganze Gerede vom Markengedöns machte dann auch ein weitgehend schlecht gelaunter Quentin Tarantino zunichte. Doch darum ging es gar nicht. Die OMR waren und sind ein brillantes Beispiel dafür, wie man inzwischen viral für Image und Aufmerksamkeit sorgt. Viel Buzz, jede Menge Stars und Show, dazu die Wirkmächtigkeit von Social Media, hier insbesondere LinkedIn. Wer sich vergewissern wollte, dass die B2B-Phrasenschleuder (“Soooo verdient!”) unverzichtbar für Unternehmen geworden ist, hat spätestens während der OMR-Tage den Beleg dafür bekommen.
Die OMR hätte auch auf jede Form des Marketings verzichten können, weil sich unter dem Hashtag #OMR22 derart viel bei LinkedIn fand, dass man ein paar Tage am Stück hätte lesen können. Ich habe sie nicht gezählt, aber es müssen Zigtausende gewesen sein. (Nebenbei bemerkt: Erstaunlich viele deutsch sprechende Rockstars posten ihre Beiträge für die deutsche Followerschaft auf Englisch, aber das nur nebenbei).
Jedenfalls alles in allem ein hübscher Beleg dafür, wie wichtig die Show, die sozialen Medien, der Buzz geworden sind. In den allermeisten Postings habe ich dann auch vergleichsweise zu den Inhalten gelesen, die es ja bei einer solchen Konferenz auch geben soll. Stattdessen: ganz viel “Sooo geil”, manchmal auch in Englisch, siehe oben. Diejenigen, die sich der OMR dann tatsächlich inhaltlich auseinandersetzten, bemängelten zum großen Teile eine gewissen inhaltliche Flachheit. Ich war nicht da und würde mir da kein Urteil anmaßen, kann es mir aber durchaus vorstellen. Zumal ich die meisten Menschen, die die OMR als zu viel Show und zu wenig Substanz beschreiben, durchaus schätze.
Und damit schwenken wir rüber zu TikTok.
Wie bitte, TikTok, was haben die mit OMR zu tun? Erstmal nichts, schon klar. Parallelen gibt es trotzdem. Eine drängt sich nach einer ganz simplen Rechnung auf:
Statistisch gesehen dauert eine durchschnittliche User-Session bei TikTok 11 Minuten dauert, die durchschnittliche Videolänge wiederum liegt bei rund 25 Sekunden beträgt. Das heißt: Pro Session sieht ein User 26 (!) Videos. 26 Mal der kurze Flash, der so gut wie keine Aufmerksamkeit erfordert, 26 Mal Material, aus dem der Algorithmus schon in dem Moment, in dem der User sein Video sieht, die nächsten Empfehlungen, die nächsten 11 Minuten zusammenbastelt.
Content gibt es genügend – entscheidend ist, was dazu kommt
Natürlich gibt es keinen wissenschaftlich belegbaren Zusammenhang, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich TikTok-User und OMR-Besucher häufig in einem ähnlichen Glückszustand befinden. Der Rausch des Schnellen, des Bunten, des Materials, das man nicht großartig reflektieren muss, das alles in der Gemeinschaft der unendlich vielen. Bei dem es zudem gar keine große Rolle spielt, was genau im Video, der Session, dem Meeting passiert ist. Stattdessen ein ständiger Stream, der dich mitzieht.
Und noch so eine Gemeinsamkeit: Beide nehmen dir Entscheidungen ab. “Der größte Fehler, den wir im Marketing machen, ist der Glaube, dass Auswahl ein Vorteil ist. Die Verbraucher wollen nicht mehr Auswahl, sie wollen mehr Vertrauen in die angebotenen Möglichkeiten”, schreibt der New Yorker Professor Scott Galloway, im Übrigen einer der Klügsten seiner Zunft (der, Kompliment dafür übrigens, ebenfalls schon mal unter dem OMR-Label aufgetreten ist). Wer die Geschichte vom verhungernden Esel und den Heuhaufen kennt, der wundert sich, dass man für diese Erkenntnis erst einen Galloway braucht.
Und auch der Begriff des FOMO existiert ja nicht ganz umsonst. Beide, TikTok ebenso wie die OMR setzen erfolgreich darauf: Geh zur OMR, geh zu TikTok, es ist in jedem Fall die richtige Entscheidung.
Was man mitnimmt? Mehr als man zunächst vielleicht denkt. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass man mit Zisch und Bumm und ein paar hippen Videos alleine schon weit käme. Wohl aber gilt für Content dasselbe wie für das Thema Marketing und das in mehrfacher Hinsicht:
- Die richtige Entscheidung: Um die Menge an Auswahl kann es in Zeiten des rabiaten Überangebots schon lange nicht mehr gehen. Niemand, der noch halbwegs bei Sinnen ist, würde sich ernsthaft darüber beschweren, dass es zu wenig Inhalt gibt. Es gibt genug von allem. Das ist das Mühevolle daran. Wenn Sie also jemanden auf Ihre Seite ziehen wollen, muss derjenige das Gefühl haben, dass Sie ihn mit den richtigen Entscheidungen, den richtigen Inhalten versorgen. Bleibt dieses Gefühl aus – ja, dann kann er sich sein Zeug ja gleich selbst zusammensuchen.
- Die Community, der Hort der Gleichgesinnten: Sieht man von Twitter ab, wo ein ordentlicher Shitstorm eher zur täglichen Folklore gehört, wollen sich Menschen in erster Linie wohlfühlen, wenn sie miteinander zu tun haben. Eine Community ist ein guter Platz fürs Wohlfühlen. Mit Content alleine ist also noch nicht getan, nur mit einer Kuschel-Community alleine auch nicht. Das führt zum nächsten und letzten Punkt.
- Der Inhalt unter einem Dach: Noch nie haben Menschen so viel Inhalt auf so vielen unterschiedlichen Kanälen gehört. Podcasts, Videos, Texte, und ja, auch das: gedruckte Sachen, so richtig altmodisch auf Papier. Umso wichtiger ist es, dass User nicht dort auch noch suchen müssen. Wo ist der beste Podcast, der packendste Text, das interessanteste Video? Schon klar, dass das utopisch ist, aber die ideale Antwort wäre: Hier, bei uns! Und wenn dann auch noch gute Live- und Hybrid-Veranstaltungen dazukommen…
Letzteres übrigens ist das gar nicht so geheime Erfolgsrezept der OMR. Kaum jemand in Deutschland hat diese Dreifaltigkeit so perfektioniert wie die Truppe von Philipp Westermeyer. Man muss nicht alles mögen, was die OMR macht, man kann einiges für eine arg oberflächliche Show halten (aber hey, wir reden hier von Marketing).
Entscheidungen abnehmen, das ist es. Ob das ein Algorithmus ist (siehe TikTok) oder dann doch noch handgemachter Kram wie bei der OMR, das ist einerlei. Zu wissen, dass es nicht mehr ausreicht, einfach “nur” guten Content zu machen, das ist der Paradigmenwechsel, vor dem wir nicht einfach nur stehen.
Er hat schon lange begonnen.