Das Gefühl, dass sich die Welt immer rasender und schneller dreht – das hat natürlich etwas mit der Nachrichtenlage zu tun. Aber auch mit unseren bevorzugten Social-Media-Kanälen und deren verniedlichend “snackable” genannten Content. Social Media, das wird von Jahr zu Jahr schneller und flüchtiger. Gegen die duracellhäschenhafte Aufgedrehtheit von TikTok wirkt Facebook ist inzwischen wie ein Diesel-Mercedes aus den 70er Jahren. Und wenn man ehrlich ist: „Snackable“, das ist so wie die echten Snacks im Leben. Haben wenig Nährwert und machen dick und träge. Zeit, den Unsinn als das zu benennen, was er ist. Read More
Die Tage habe ich gelesen, dass ein gewisser Fynn Kliemann möglicherweise ein paar nicht ganz saubere Masken-Deals gemacht haben soll. Das wäre mir zunächst beinahe egal gewesen, weil ich den Namen Kliemann bis dato nur am Rande mitbekommen und dabei nie das Gefühl hatte, irgendwas versäumt zu haben.
Das wiederum hat damit zu tun, dass Kliemann zu einem der exponiertesten Vertreter dessen gehört, was wir mittlerweile “Aufmerksamkeits-Ökonomie” nennen.
Kliemann macht irgendwas in sozialen Netzwerken und immer mehr Leute schauen ihm dabei zu, weil es so viele andere gibt, die das tun. Berühmt zu sein dafür, dass man berühmt ist, das geht erst, seit es die vielen unzähligen Kanäle gibt, die das möglich machen, auch wenn ich grundsätzlich nicht abstreiten würde, dass es darunter Kanalinhaltefüller gibt, die sogar was können.
Jedenfalls habe ich ein bisschen gestaunt, wie ein Mensch, der weitgehend unbemerkt an mir vorbeigezogen ist, es zu solcher Bedeutung bringen kann, dass seine Maskengeschichte es auf die vorderen Ränge bei Spiegel und Zeit bringen kann und ihm sogar das ZDF geschlagene 27 Minuten im Hauptprogramm widmet. Gut, das war nur Jan Böhmermann, aber trotzdem…das Video bringt es auf über drei Millionen Abrufe und auf knapp 150.000 Likes.
Außerdem gibt es über 1000 Kommentare, in denen sich einer sogar zu “grenzenlosem Respekt vor der investigativen Arbeit” versteigt. Was macht der Mensch bloß, wenn er mal erlebt, was wirklich investigatives Arbeiten bedeutet? Womöglich bemerkt er dann, dass dieser sogenannte Journalismus auch außerhalb von YouTube und Insta echt crazy shit ist.
Ich habe natürlich keine Ahnung, wie es ein 34jähriger gelernter Webdesigner zum Multi-Unternehmer von millionenschwerer nationaler Bedeutung bringt. Es könnte allerdings damit zu tun haben, dass Kliemann jede Menge von diesem Wundermittel Aufmerksamkeit abbekommen hat. Die wiederum bekommt man heute schnell über soziale Netzwerke. Und über dieses Zeug, dass Digital-Laberbacken “Snackable Content” nennen. Diese “Content Snacks” sind nichts, was ernsthaft an Inhalten interessierte Menschen verbreiten sollten. Weil diese Snacks am Ende zur der endgültigen Vertiktokisierung der Welt führen.
Nicht falsch verstehen: Ich glaube nicht, dass man nicht auch in vergleichsweise kurzen Formaten gute Sachen erzählen kann. Ein Text ist nicht zwingend gut, nur weil er lang ist, ebenso wenig ein Video oder ein Audio. Nur gilt das leider auch umgekehrt: Kurz und “snackable” ist nicht per se gut, dafür aber mit dem Risiko behaftet, nach Aufmerksamkeit zu heischen. Weil das nicht anders geht, in einer Welt, in der im Millisekundentakt irgendwelche neuen Dinge aufploppen. Die Konsequenz: Social Media sind ein Steroid für das für einen kruden Mix aus Reality-TV und dem Web. Ein Mix, der Webdesigner (und andere) aus der Vorstadt in „Influencer“ und B-Promis in Millionäre verwandelt hat. Die Neugestaltung der Aufmerksamkeitskette hat die Gewichte verschoben, klassische Medien spielen dabei fast keine Rolle mehr.
Muss man das bedauern? Mir sind Figuren wie Fynn Kliemann ungefähr so egal wie die Kardashians, allerdings gibt es dabei noch einen anderen Aspekt. Social Media in seiner ungehemmten Form ist ein Spaltpilz. Einer, der zwar das Beste in Menschen herausbringen kann, potenziell aber leider auch das Schlechteste. Das, was wir gerne mal verharmlosend als Viralität bezeichnen, ist oft nichts anderes als ein erratisches Taumeln von einem Thema zum nächsten. Wir verlieren die Fähigkeit, mehrere Themen gleichzeitig und mit mehr Nuancen zu verfolgen. Und die Relationen, die Bedeutung eines Themas, das wird ebenfalls zunehmend unklar in einem Strom, in dem es neben in einem rasenden Tempo den Ukraine-Krieg, einen ohrfeigenden Will Smith, Fynn Kliemann und acht Milliarden Tweets am Tag entlang spült.
Futter fürs Gehirn, so nahrhaft wie ein BigMac.
Unser Social-Media-Hirn ist süchtig geworden nach ständig neuen Reizen
Beispiel gefällig? Bitte sehr: Fynn Kliemann. Wir sind so süchtig nach Ablenkung, nach immer neuen Reizen und Geschichten geworden, dass es eine solche Geschichte mitten in Kriegszeiten zu echtem Aufreger-Potenzial bringt. Auch, wenn man es nicht gerne ausspricht: Journalisten wissen das schon seit dem Tag des Kriegsbeginns, dass der Kipppunkt bald erreicht ist. Der, an dem aus der anfänglichen Betroffenheit der Wunsch nach neuen Reizen und etwas Snackable Content wird. Bittesehr, hier ist er: YouTuber mit undurchsichtigen Maskengeschäften, ein Fest für Twitter und andere Social-Media-Kanäle. Kliemann trendet, alles andere muss sich an diesem Tag mit Platzierungen unter ferner liefen zufriedengeben.
Dabei geht es bei diesem Thema ja nicht nur um eine Frage der Mediennutzung. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist inzwischen auch buchstäblich zum wirtschaftlichen Treiber geworden. Der durchschnittliche Deutsche knapp zehn Stunden am Tag alleine mit Audiovisuellem, TV und Internet, andere Medien sind da noch gar nicht eingerechnet. Das sind gut 60 Prozent seiner wachen Zeit. Ungefähr 40 Prozent dieser Zeit wird mit einem mobilen Gerät verbracht.
Milliarden von Euro und Millionen von Personenjahren werden damit verbracht, diese Aufmerksamkeit einzufangen und zu Geld zu machen. Je mehr Aufmerksamkeit, desto mehr Daten, desto mehr Geld, desto relevantere Angebote, desto mehr Aufmerksamkeit … und so weiter und so fort. Das sind die die wirklich relevanten Seiten des “Snackable Content”.
Darauf basieren inzwischen Milliarden-Industrien, Google und Meta und TikTok allen voran. Vor allem TikTok ist das Paradebeispiel für diese Entwicklung. Ein nie abreißender Strom aus Irgendwas, hochgradig süchtig machend, belanglos und genau deshalb so zerstörerisch. TikTok als das Paradebeispiel für ungefähr alles: Wer nicht sofort Aufmerksamkeit bekommt, wird weggewischt. Also versucht man alles, um sofort Aufmerksamkeit zu bekommen, die Medienwelt als Tinder-Klon. Match oder Nicht-Match, snackable oder ungenießbar. Ich weiß nicht, wie viel dran ist an den Klagen über ständig sinkende Aufmerksamkeitsspannen und Konzentrationsprobleme. Aber sagen wir mal so: Wundern sollte man sich nicht, wenn es denn so wäre.
Was wiederum die Zukunft von TikTok aus anderen Medien machen wird, lässt sich leicht erahnen. Der Social-Media-Streaming-Hybrid hat sich in aller Stille zu einer der mächtigsten Snackable-Content-Maschine der Welt entwickelt, mit einer einer Milliarde Nutzern, die ihre Inhalte kostenlos produzieren. Jede Stunde, jede Sekunde, Kurzfilmchen auf Kurzfilmchen.
Dagegen wirkt dann sogar jemand wie Fynn Kliemann fast schon wie aus der Zeit gefallen, der ist hauptsächlich bei YouTube und Instagram unterwegs. Gemessen am Snackable-Monstrum TikTok: fast eine Oase der Ruhe und der Langsamkeit.
Ein paar Tage später übrigens ist schon wieder Ruhe und wenn ich die letzten Tage einfach verschlafen hätte, wäre mir Fynn Kliemann wahrscheinlich immer noch kein Begriff. So viel zur Halbwertszeit in unserer Aufmerksamkeitsökonomie.