Als das „alte“ Jahrzehnt zu Ende ging, habe ich mir den Frust von der Seele geschrieben. Über die Entwicklungen der letzten zehn Jahre, die passenderweise im ganz besonders irrsinnigen 2019 kumulierten. Es war ja schließlich nicht nur der Zustand der Debatten-Unkultur im Netz, den man bedenklich finden musste (und muss). Auch viele andere Dinge im digitalen Leben waren (und sind) nicht so, wie man sie gerne hätte. Ich glaube trotzdem: Mit ein bisschen Glück wird die folgende digitale Dekade eine deutlich bessere. Read More
Dies also ist der Zustand des Internets am Anfang dieses neuen Jahrzehnts: Aus einer ganzen Reihe von guten Gründen herrscht Verwirrung über die vielen technischen Erfindungen, mit denen wir es in den vergangenen zehn Jahren zu tun bekommen haben. Zur Einordnung: Das iPad ist gerade mal zehn Jahre alt, wobei das iPad zu den Dingen gehört, die wir noch am leichtesten verkraftet haben.
Und seien wir ehrlich: Auch wenn es in den vergangenen Wochen wieder mal unzählige „Die 10 Trends des neuen Jahres/Jahrzehnts“-Texte gab, was die grundlegenden Entwicklungen angeht, tappen wir alle im Dunkeln.
Was also ist das nächste große Ding, das berühmte, one more thing , wie es Steve Jobs früher immer so unnachahmlich beiläufig angekündigt hat? Zwar wird uns seit geraumer Zeit angekündigt, dass es mit dem Smartphone dann allmählich auch wieder zu Ende gehe. Aber mit wirklichen Innovationen ist die Tech-Branche zurückhaltend gewesen in den letzten Jahren, wenn man vielleicht mal von Smartspeakern und dem Thema Audio absieht. Aber sonst? Eine eher mühsame Weiterentwicklung eines Gerätes, das es in dieser Form inzwischen seit fast 15 Jahren gibt. Natürlich ist jedes neue iPhone das Beste aller Zeiten. Aber wirklich Bahnbrechendes ist im Hardware-Sektor in den letzten Jahren nicht passiert. Und inhaltlich (wenn wir jetzt mal von Medien und Kommunikation reden) auch nicht.
2019 war mal wieder ein Jahr des digitalen Monkey Business
Das war auch vergangenes Jahr nicht anders. Die technischen IPOs im Jahr 2019 waren bedenklich (Beispiel: Uber), schlechtes und unsolides Wirtschaften wurde entlarvt (siehe We Work). Das Vertrauen in die Technik erodierte (siehe Facebook), selbst als die Großen noch größer wurden (siehe ebenfalls Facebook). Zu wenig wirklich gute Sachen, daneben die übliche Großmäuligkeit von Blendern und Schwätzern, Monkey Business, wie das im Englischen so schön heißt. Alles in allem ein eher jämmerliches Jahr im digitalen Großkosmos.
War es das also mit den Segnungen der Digitalisierung, mit der Erwartung, dass unser aller Leben schöner, besser, bequemer wird? Das Smartphone und ein paar soziale Netzwerke als Quintessenz der letzten zehn Jahre, echt jetzt?
Muss nicht so sein. Im Gegenteil. Vielleicht ist diese Ernüchterung etwas, was sich später mal als der Beginn einer guten Entwicklung herausstellen wird. Wenn man also den „Gartner Hype Cycle“ zugrunde legt – womöglich haben wir dann jetzt das Tal der Enttäuschungen , die Phase der Desillusionierung hinter uns. Und können endlich eintreten in die Phase der Produktivität.
Das Ende des Fanboy-Journalismus
Vor allem jetzt, wo unsere übergroßen Erwartungen an die Technik auf ein vernünftiges Maß reduziert sind und die Fanboy-Tendenzen gegenüber Technologieunternehmen auch unter Journalisten allmählich wieder einen gesunden Distanz weichen. Deswegen muss man nicht jedes neue iPhone in Grund und Boden schreiben. Man darf schon sagen, wenn etwas gut ist. Bloß das, was sich da zeitweise in den Hoch-Tagen von Apple & Co. im sogenannten Tech-Journalismus tummelte, erinnerte zeitweise wirklich an eine Fanclub-Generalversammlung.
Das größere Problem war (und ist) dabei gar nicht die Hardware. Entscheidender ist: Wir haben immer noch nicht alle Auswirkungen der Technik des letzten Jahrzehnts verstanden und die richtigen Konsequenzen daraus gezogen. Das wäre auch zuviel verlangt. Technologien wie beispielsweise das Telefon oder das Fernsehen haben teils Jahrzehnte gebraucht, bis sie weltweit von 100 Millionen Menschen genutzt wurden. Bei Smartphones waren es dann nicht mal mehr zehn Jahre, bei sozialen Netzwerken wie Instagram teils nur noch zwei Jahre. Und hundert Millionen? Solche Zahlen erreicht heute jedes Schüler-Startup vergleichsweise schnell (oder es geht sofort wieder unter, wir nennen es Netzwerkeffekt).
Klar also ist: Es wird noch dauern, bis wir alle Auswirkungen komplett begriffen haben. Zumindest aber sehen wir klarer als noch vor wenigen Jahren in der Hochphase des ungebremsten Digital-Optimismus.
Was aber immer noch unverändert ist: Vieles an Technik und Plattformen macht immer noch süchtig. Der digitale Hass wird weiterhin um die halbe Welt reisen. Aber es gibt trotzdem einige große, positive Ideen. Manche existieren tatsächlich erstmal nur als vage Idee, anderes ist schön konkreter absehbar.
Also, lassen wir die viele berechtigte Kritik beiseite. Vergessen wir, was in den letzten zehn Jahren war. Schauen wir stattdessen, was besser werden könnte. Zugegeben, manches ist eher stille Hoffnung als wirklich gut zu begründen. Aber trotzdem…
Ausgerechnet TikTok zeigt: Es gibt Platz für neue Ideen und Player
Fangen wir an mit den sozialen Netzwerken, die in den letzten Jahren zur echten Plage geworden sind. Facebook ist eben auch eine echte Hass- und Fake-Schleuder, Instagram eine (manchmal) nervtötende Selbstdarsteller- und Schaumschläger-Generalversammlung und Twitter ist ohnehin eine Parallelwelt geworden. Ich weiß, es gibt auch andere Seiten dieser Netzwerke, aber alles in allem war die Entwicklung der letzten Jahre keine gute.
Und jetzt – kommt ausgerechnet TikTok. Keine Sorge, weder begebe ich mich wieder auf das Niveau eines Elfjährigen noch ignoriere ich die ganzen hinlänglich debattierten Kritikpunkte. Ich halte TikTok auch nicht für die Rettung des Journalismus. Und was die „Tagesschau“ dort verloren hat, verstehe ich bis heute nicht.
Aber darum geht es nicht. Sondern darum, dass der Erfolg von TikTok etwas ebenso erstaunliches wie banales belegt: Die heutige Social-Media-Ordnung und auch die Funktionsmuster sind nicht in Stein gemeißelt.
Ich bin überzeugt, dass man Geld verdienen kann, wenn man Plattformen baut, die dem entgegenstehen, was unseren Umgang mit digitaler Technik so enervierend macht. Es gibt Wege, eine digitale Interaktion zu fördern, die nicht in permanenten Wutausbrüchen endet.
Social Media ist immer noch auf permanente Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit ausgelegt
Die Gründe, warum sich ein Großteil der sozialen Medien so giftig anfühlt, sind hinlänglich beschrieben worden. Dazu gibt es keine zwei Meinungen mehr. Sie sind ausgelegt auf permanente Geschwindigkeit und dauernde Aufmerksamkeit. Dinge wie Kontext und Genauigkeit (interessanterweise beides etwas, was guten Journalismus auszeichnet) kommen zwangsweise zu kurz.
In den letzten zehn Jahren haben wir es mehr oder weniger stillschweigend hingenommen. Die Menschen sind nun mal so, sagen Defätisten. Mag sein, aber es ist schon auch die Technik, die das Schlechte im Menschen hervorbringt. Was aber, wenn die Idee, die hinter Facebook und Instagram steckt, überholt ist? Was wäre, wenn es zumindest Gegenspieler zum großen Süchtigmacher-Reich in Paolo Alto gäbe?
Und da kommen wir wieder zu TikTok: Während es bisher schlichtweg undenkbar schien, sich eine neue Art von sozialen Netzwerkprodukten im Schatten von Facebook vorzustellen, ist TikTok trotz aller Kontroversen als chinesisches Unternehmen ein Riesenerfolg (der erste große soziale Erfolg seit Snapchat im Jahr 2011). Und es gibt Raum für mehr. Es gibt Möglichkeiten, neue Kommunikationsformen zu schaffen, die den Nutzern einen Vorteil verschaffen.
Dazu braucht man ein paar Dinge, die vermutlich nicht jeder gerne hört: strikte Durchsetzung von Verhaltensstandards und die Beseitigung der Anonymität. Und vor allem durch werbebasierte Geschäftspläne, die nicht auf der Ausnutzung unserer persönlichen Daten basieren. Jaron Lanier hat dazu immer wieder schlaue Sachen geschrieben. Ist es wirklich so utopisch, dass wir wieder Herren unserer eigenen Daten werden, sie selber verkaufen oder eben auch nicht? Und wäre es nicht an der Zeit zu begreifen, dass es „kostenlose“ Angebote im Netz nicht geben kann, zumindest dann nicht, wenn man Multi-Milliarden-Konzerne betreibt?
Laissez-faire ist eine untaugliche Idee
Kurz gesagt: Das strikte Prinzip des laissez-faire hat sich als untauglich erwiesen. Aber nirgendwo steht erstens geschrieben, dass man nicht auch im sozialen Netz ein paar vernünftige Regeln aufstellen kann. Und zweitens ist vielen Usern lange Zeit nicht klar gewesen, in welchem gigantischen Ausmaß ihre Daten gezogen, sie getrackt und schließlich zu einem Produkt der Großkonzerne gemacht werden. Wenn der Mensch zur Werbe-ID wird, läuft irgendwas alptraumhaft falsch. Aber auch das ließe sich ändern.
So ganz ohne ein paar Sätze zum Thema Smartphone geht es aber in diesem Zusammenhang dann doch nicht. Weil es in den letzten zehn Jahren zum großen Gamechanger in jeder Hinsicht geworden ist. Nichts und niemand kann sich dem Smartphone entziehen. Die Palette reicht von Journalisten, denen man sagt, dass sie künftig in erster Linie für das Handy produzieren, bis hin zu genervten Eltern, deren Kinder weitaus lieber mit dem Schlautelefon kommunizieren als mit dem Rest der Familie.
Eine „menschliche Herabstufung“
Es gab in den letzten Jahren eine Menge Debatten über die Omnipräsenz der kleinen Screens. Über die negativen Auswirkungen all der Geräte, auf die wir uns inzwischen verlassen. (Hinweis: Ich bin mitschuldig im Sinne der eigenen Anklage.) Diese Geräte wurden entwickelt, um Nutzer abhängig zu machen. Bevor Sie es sagen: Man kann für digitale Hardware und Software auch einen sehr vernünftigen und nutzbringenden Umgang entdecken. Es ist bloß verdammt schwer. Ungefähr so, als würden Sie sich vornehmen, pro Tag lediglich noch genau eine Zigarette zu rauchen: Es gibt Fälle, in denen das funktioniert. Ein guter Ratschlag, es doch mal so zu versuchen, ist das dennoch nicht.
Tristan Harris nennt einen solchen Umgang mit digitaler Technik eine“menschliche Herabstufung“ – und er hat recht.
Zurück also in die analoge Vergangenheit? Wir alle wissen, dass das erstens nicht geht und zweitens auch keinen Sinn machen würde. Wohl aber könnten wir digitale Gerätschaften effizienter und ohne Suchtgefahren arbeiten lassen.
Das wiederum wird möglich durch (ok, also doch) das Ende der dominierenden Rolle, die das Smartphone in unserem täglichen Leben spielt.
Auf Screens starren und mit den Fingern tippen, wird irgendwann Vergangenheit sein
Ob wir uns nun in Richtung einer intuitiveren Technologie bewegen, die uns umgibt oder die sich in unseren Körper einfügt (ja, das kommt noch) – am Ende der gerade begonnenen Dekade gehört es zur Vergangenheit, ein klobiges Gerät in der Hand zu tragen und es anzustarren. Und wie das Stromnetz, auf das wir täglich angewiesen sind, wird der größte Teil der Technik unsichtbar werden.
Die ersten Paradigmenwechsel erleben wir jetzt schon. Die Idee, auf vergleichsweise winzigen Tastaturen rumzutippen, Informationen zu suchen und dafür mit einem Schwall mehr oder weniger relevanter Links belohnt zu werden, ist auf dem Rückzug. Stattdessen sehen wir zunehmend Sprachsteuerungen, künstliche Intelligenzen und virtuelle bzw. erweiterte Realitäten. Natürlich ist in all diesen Bereichen die Technik noch in einem zu frühen Stadium, als dass sie ernsthaft ein Smartphone ersetzen könnte. Niemand hat Lust, dauerhaft mit einer schweren und klobigen Brille auf dem Kopf in VR-Welten einzutauchen.
Aber wie schnell Technik explodieren kann, haben wir am Anfang der zurückliegenden Dekade gesehen (siehe oben): Das iPad ist gerade mal zehn Jahre alt.