Vielleicht muss es ja so sein: Die beiden absurdesten Debatten des letzten zehn Jahre wurden am Ende der Dekade geführt. Einer Dekade, von der sich nicht sagen lässt, dass sie eine gute für Medien, Kommunikation und die digitale Gesellschaft gewesen wäre.Read More
Vor ziemlich genau zehn Jahren, was waren das aus heutiger Sicht für selige Zeiten. Ich zählte mich damals selbst zur Kategorie der unbedingten Digital-Optimisten. Ich war mir sicher, dass die alten Medien ihren eigenen Abgesang eingeläutet hätten (wenigstens in der Beziehung habe ich Recht behalten). Ich dachte, dass das alte Zeug durch wesentlich bessere, aufregendere und schönere Dinge ersetzt würde. Facebook habe ich als netten Ort empfunden, an dem ich beliebig viel Kontakt mit alten und neuen Freunden (und vor allem: richtigen Freunden) halten könnte. Bei Twitter mochte ich die vielen kleinen, geistreichen, witzigen Beiträge. Ich schätzte die Möglichkeit, mich mit meiner eigenen Timeline auf dem Laufenden zu halten. Und mein iPhone 3G starrte ich damals gerne mit verklärtem Blick an und dachte mir: Was für ein tolles Gerät. Kurz gesagt: Die digitale Zukunft kam mir wie ein einziges, großes Versprechen vor.
Jetzt, an der Schwelle der neuen 20er Jahre, denke ich mir: Was ist nur aus euch geworden, Netz und digitale Gesellschaft? Oder, wie es „Die Sterne“ mal in einem anderen Zusammenhang wunderbar formulierten:
Was hat dich bloß so ruiniert?
Fangen wir mal kurz mit dem aktuellem Beitrag zum Ruin an. Das Schlimmste, was man dem WDR vorwerfen muss, ist, dass seine Umweltsau-Satire genau das widerspiegelt, was so ein öffentlich-rechtlicher Rundfunkbeamter vermutlich für bissige, witzige und pointierte Satire hält. Tatsächlich hat das Umweltsau-Liedchen etwas oberstudienratartig Langweiliges an sich. Kabarett aus den 80er Jahren, das wäre als einer der weniger gelungenen Beiträge in einem Dieter-Hildebrandt-Scheibenwischer durchgegangen. Das ist dann aber auch schon alles. Über den Begriff „Umweltsau“ hätte sich damals bestenfalls ein CSU-Rundfunkrat im BR etwas aufgeregt und selbst das ist nicht gewiss. Aber das waren ja auch die 80er, die lange her sind und rückblickend betrachtet keine so schlechte Zeit waren, zumindest, wenn man die heutige Dauerempörung als Maßstab heranzieht.
Was dem Liedchen neben dem fehlenden Witz und Biss ebenfalls ganz sicher fehlte: Jegliches Potential, eine Gesellschaft zu spalten. Meine Oma lebt zwar schon lange nicht mehr, vielleicht hätte sie das nicht wirkich lustig gefunden, aber aufgeregt hätte sie sich auch nicht. Mein Gott, Böhmermann nennt Erdogan in einer Satire Ziegenficker und das sollen wir jetzt die Umweltsau als Anschlag auf eine ganze Generation sehen? Meine Oma hätte sich jedenfalls ihre Lebensleistung sicher nicht von einem trällernden Kinderchor schmälern lassen. Von einem rotznasigen FFF-Tweet übrigens auch nicht. Also, kommt mal alle wieder runter. Sowas nicht auszuhalten hat schon was Nordkoreanisches an sich.
An Bagatellen entzünden sich Debatten, die auch nach Tagen nicht beendet sind
Dabei war der letzte Aufreger gerade erst ein paar Tage her: Da echauffierte sich Social-Media-Deutschland tagelang über Greta, auf dem Boden eines ICE sitzend. Auch da galt: Man kann dazu unterschiedliche Meinungen haben, man kann die Bahn kritisieren und man kann sogar mal die heilige Greta kritisieren. Aber alles in allem wäre auch das früher nicht mal eine Mini-Debatte wert gewesen, weswegen ich gerade beim Schreiben die 80er noch ein kleines bisschen geiler finde (falls Sie auch zu den komplett Ironiebefreiten gehören und gerade losbrüllen wollen, der letzte Satz ist ein bisschen ironisch gemeint).
Am Zustand der Satire und an den grundsätzlichen Haltungen zu Greta und dem Thema Klima lässt sich ablesen, was in der letzten Netz-Dekade passiert ist. Satire darf alles, außer Greta. Satire darf alles, außer Klima. Satire darf alles, außer die eigene Filterblase aufs Korn nehmen.
Umgekehrt können wir über alles reden. Wir müssen aber ständig davon ausgehen, dass ein winziger Nebenaspekt eines Themas eine Debatten-Kernschmelze auslöst. Das führt dann, siehe Greta und die Umweltsau, gerne dazu, dass jeder einzelne Aspekt eines Themas beleuchtet wird, nur nicht der relevante: Über die Klimakonferenz in Madrid wurde vergleichsweise wenig diskutiert. Umso mehr dagegen über Greta im Zug und über die ein bisschen unglückliche Reaktion der Bahn dazu.
Größer als Engel, kleiner als Affen
Der Mensch könne größer handeln als ein Engel – und niedriger als ein Affe, sagt ein Sprichwort. Nimmt man als Maßstab, was das Netz, insbesondere das sogenannte „soziale“ in den vergangenen zehn Jahren manchmal aus uns Menschen hervorbringt, dann müsste man sich bei Affen für den Vergleich entschuldigen. Auch hier sind die letzten beiden Quatsch-Debatten des letzten Jahrzehnts sinnbildlich: Bei der Greta-im-ICE-Geschichte wurden selbst an sich freundliche Menschen plötzlich zu Furien. Und fragen Sie mal den Kabarettisten Dieter Nuhr: Der durfte jetzt 20 Jahre vor sich hinspielen. Seit er ab und an harmlose Greta-Scherze macht, ist er in Teilen der Social-Media-Blase zum Hassobjekt geworden.
Irgendwann kommt dann zuverlässig was mit Hitler und Nazis
Noch bezeichnender und archetypischer lief die Geschichte mit der Umweltsau: Inmitten einer sich zunehmend aufheizenden Atmosphäre twitterte dann noch ein freier WDR-Mitarbeiter, Oma sei tatsächlich keine „Umweltsau“, sondern eine „Nazisau“ gewesen.
Das ist zwar an Dämlichkeit kaum mehr zu überbieten, rechtfertigt aber bestenfalls ein Kopfschütteln vor so viel Dummheit. Schließlich ist das seit Jahrzehnten ein ungeschriebenes Gesetz: In dem Moment, in dem Hitler oder Nazis in der Debatte auftauchen, ist die Debatte tot. Wer also Nazisau schreibt, sollte wissen…aber lassen wir das.
Tatsächlich brauchte der Mann Polizeischutz, erhielt Morddrohungen und wurde vom rechten Digital-Pöbel übel angegangen. Aber so laufen deutsche Debatten im Netz inzwischen gerne: Irgendwann sagt jemand irgendwas mit Hitler und dann wird bedroht, beleidigt, prozessiert. Als Unbeteiligter steht man meistens verwirrt mittendrin und fragt sich, welche Seite genau man jetzt unerträglicher finden soll.
Für mich selbst bin ich noch nicht zu einer befriedigenden Antwort gekommen, weil sie sich da ähnlich sind, die linken Spießer und die rechten Sektierer. Wer ein Sendeverbot für Dieter Nuhr verlangt, ist mir um kein Fitzelchen sympathischer als jemand, der wegen des Umweltsau-Dingens die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordert. Ein bekannter Kolumnist und Bücherschreiber hat sich in letzter Zeit mehrfach unverblümt dafür ausgesprochen, Meinungen zu regulieren. Auch angesichts solchen Unfugs bekommt man ein Gefühl dafür, was in den vergangenen zehn Jahren passiert ist.
Likes gibt es für die Lauten
Je älter ich werde und umso größer meine Erfahrungen sind, desto mehr ahne ich: Die Welt ist selten schwarz oder weiß, sondern eine Mischung aus beidem. Das ergibt in der Konsequenz ein eher unscheinbares Grau. Das wiederum ist die vermutlich Social-Media-unfreundlichste Farbe, die man sich vorstellen kann. Mit grau gewinnt man keine Follower. Für grau gibt es keine Likes. Für grau müsste man Zeit, Platz und Muße haben. Im digitalen Zeitalter handelt es sich bei solchen Dingen zunehmend mehr um Luxusgüter.
In dem Zusammenhang bekommt man auch eine Ahnung, warum mittlerweile so viele Menschen glauben, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt (in Deutschland sind das, je nach Umfrage, zuverlässig Werte von über 50 Prozent). Immer, wenn solche Zahlen kursieren, kommt irgendein Blockwart oder noch besser: Medienkritiker aus der Ecke und erklärt, warum das Unsinn ist. Das gehört tatsächlich zu den einfachsten Übungen. De jure und de facto ist die Meinungsfreiheit genauso groß oder klein wie vor 50 Jahren. Für diese Erkenntnis muss man weder besonders hell im Kopf sein noch intensiv recherchieren. Schließlich handelt es sich lediglich um eine gefühlte Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Die wiederum hat mit einem Paradox zu tun: Man fühlt sich in seiner Freiheit eingeschränkt, weil es noch nie so viele Meinungen gab, mit denen man konfrontiert wurde. Man erschrickt vor so viel Gegenwind und zieht sich schnell in seine wohlige Filterblase zurück. Ein paradoxer Effekt also: Die Tatsache, dass mittlerweile jeder publizieren kann, was er will und viele das auch tun, sorgt für Meinungs-Rudelbildungen im Netz. Und für unangenehme Konfrontation mit der Realität. Auch dafür ist die Umweltsau-Debatte ein Beleg: Während für die einen komplett unverständlich bleibt, wie man so etwas auch noch als Satire bezeichnen mag, kapieren andere nicht, dass es offenbar gar nicht so wenige Menschen gibt, die sich nicht so gerne als Sau bezeichnen lassen, nicht mal im Spaß. Das alles wäre eigentlich ein simpler Vorgang und unter normalen 80er-Jahre-Umständen auch kaum eine Debatte wert. Heute muss man eine geschlagene Woche drüber debattieren. Zu einer echten Annäherung kommt man dennoch nicht.
Was kommt nach den „Terrible Tens“?
Das zeigt sich auch in einem anderen erstaunlichen Phänomen: Bei Debatten im Netz fallen Hemmschwellen auch bei Menschen, die man im echten Leben als ausgeglichene, freundliche Zeitgenossen kennt. Das Aggressionslevel im Netz ist spürbar größer als andernorts. Auch das gehört zu den großen Enttäuschungen der letzten zehn Jahre: Man musste zu Beginn des Jahrtausends nicht mal ein Utopist sein, um sich vorzustellen, dass das Netz die Welt zu einem besseren Ort machen könnte. Wenn heute Journalisten bedroht oder gar mit Brandanschlägen auf ihr Auto bedacht werden, dann wird man schnell vom Utopisten zum Realisten.
Weswegen ich auch nicht mehr daran glaube, dass insbesondere das soziale Netz ein geeigneter Ort ist, um in gepflegten Debatten nach einem Konsens für irgendwas zu suchen. Man dürfe das Netz nicht den Schreihälsen überlassen, wird dann gerne argumentiert. Dabei ist das doch leider schon lange passiert, dass die Lauten den Ton angeben. Nicht nur auf der rechten, sondern auf der linken Seite genauso. Mit laut ist nicht nur der virtuelle Dezibel-Wert gemeint. Sondern auch das Verkürzen auf irgendwelche hübschen Social-Media-Bildchen, auf zitierfähige Claims, auf populistische Verknappungen. Dafür waren Menschen schon immer anfällig, das Netz verstärkt diese Neigung noch.
Waren also die vergangenen zehn Jahre schlechte Jahre für das Netz? Zweifelsohne, die „Washington Post“ hat sie gerade erst die „Terrible Tens“ genannt. Werden die kommenden Jahre besser, für das Netz allgemein und den Journalismus im speziellen? Eine Dekanden-Prognose wäre wie immer unseriös. Sicher ist aber: Nach dem Zeitalter des Utopismus bräuchten wir jetzt vor allem Pragmatismus und Realismus. Der utopische Kram hat uns nicht wirklich weiter gebracht.
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