Was ist wichtig, was nicht? Eine Frage, die sich in Zeiten des digitalen Overflows meistens nur noch mit „Kommt drauf an“ beantworten lässt. Weswegen Journalisten und Medien immer häufiger Weltbilder und Sichtweisen verkaufen. Das hat grundlegende Auswirkungen auf das Geschäftsmodell. Weil Weltbilder wichtiger sind als vermeintliche Kostenlos-Mentalität oder Lesefaulheit. Read More
In Kanada ist in rund 300.000 Haushalten der Strom ausgefallen. Eine eher uninteressante Nachricht, finden Sie? Da würde ich Ihnen recht geben. Bei den Kollegen vom „Spiegel“ steht Sie dennoch gerade eben (Stand: Sonntag morgen, 7 Uhr) ziemlich weit oben.
Das hat weniger mit dem Stromausfall zu tun als damit, dass er vom Hurrikan „Dorian“ ausgelöst wurde. Sie wissen schon, dieses Monster, das seit gut einer Woche durch die deutschen Medien geistert und sich seitdem beharrlich weigert, das zu tun, was man von ihm erwartet. Dabei hatte man ihm so viele Chancen gegeben: Florida, Georgia, die Carolinas, Virginia. Nirgendwo ist etwas Nennenswertes passiert, da muss man jetzt doch prominent melden, dass er in Kanada ein bisschen was angerichtet hat. Sonst wären ja die ganzen Meldungen aus der vergangenen Woche, nach denen sich Millionen auf der Flucht befanden, völlig für die Katz gewesen.
Deutlich weiter unten findet sich auf der Spiegel-Seite noch etwas: ein kurzes Video über die aktuelle Lage der Bahamas. Von der Inselgruppe vor der US-Ostküste fliehen gerade (diesmal wirklich!) ein paar Tausend Menschen. Dort hat „Dorian“ nämlich wirklich gewütet. Bisher gibt es mindestens 43 Tote, ganze Orte sind ausradiert, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, Hilfe und Spenden, vornehmlich aus den USA, kommen erst sehr langsam an.
Bahamas kaputt? In den USA Top-Thema, hier eher langweilig
In den letzten Wochen war ich in den USA. Und wenn ich dort etwas – endgültig – gelernt habe, dann das: Journalismus, Medien, Information, all das Zeug, das uns täglich umgibt – es ist alles nur eine Frage der Perspektive. Und wie das so ist mit Perspektiven: Sie sind selten richtig oder falsch. Nur anders.
Das kleine Beispiel vom „Spiegel“ und dem kanadischen Stromausfall zeigt das ganz wunderbar. In Deutschland sind die Bahamas eine karibische Inselgruppe, Kategorie „Exotisches Urlaubsziel“. Im Süden der USA liegen sie vor der eigenen Haustür. Dorr also berichtet man täglich groß über das Elend der Bahamas, während uns das in Deutschland eher kalt lässt. Zeitungen wie beispielsweise die SZ berichten darüber eher als Randnotiz:
Gemessen daran, wie sehr man in der vergangenen Woche über „Dorian“ berichtet hat: ein Witz.
Dabei lässt sich diese Unwucht wenigstens teilweise einfach erklären: Die USA sind uns näher als die Bahamas. Und vermeintliche Millionen Amerikaner auf der Flucht lassen sich zudem besser verkaufen als Tote und Obdachlose auf einer Karibikinsel.
Was mir nebenher noch etwas Zweites klargemacht hat: Journalismus ist Business, allen Sonntagsreden zum Trotz. Weil der Mensch nur begrenzt aufnahmefähig ist, muss Journalismus selektieren. Und weil er sich ja auch verkaufen und finanzieren muss, selektiert er so, dass seine Angebote in seiner Zielgruppe gut laufen: siehe Bahamas und der kanadische Stromausfall.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das ist legitim und vermutlich auch gar nicht anders möglich. Man muss sich dessen nur bewusst sein, wenn man irgendwann mal wieder debattieren will, ob der Journalismus etwas richtig oder falsch abbildet. Die Antwort auf diese Frage wäre meistens ein entschlossenes: kommt drauf an.
Greta: In den USA mäßig bekannt, in Deutschland ein Top-Thema
Dabei geht es nicht nur um die nackte Information, sondern um ganze Weltbilder. Auch die sind relativ, wie der Blick auf Medien in Deutschland und den USA zeigt. Während also beispielsweise in den letzten zwei Wochen Greta Thunberg und ihr Segeltrip in die USA ein mediales Dauerthema waren, interessierte man sich drüben eher mäßig dafür. Und wenn, dann oft mit skeptischem Unterton.
Eine kleine Spielerei zum Vergleich: Sucht man auf der Webseite des „Miami Herald“ nach dem Namen Greta Thunberg, kommt man auf 33 Treffer. Bei der „Süddeutschen Zeitung“ sind über 1200. Was richtig oder falsch ist, will ich nicht bewerten. Aber dass es kein großes Wunder ist, wenn Greta in den USA eher einer Randnotiz ist, ist klar. Dass man ihr umgekehrt in Deutschland eine sehr viel größere Bedeutung zuschreibt, ebenfalls.
Was wiederum Auswirkungen auf die Sichtweise hat (oder vielleicht hat auch die Sichtweise Auswirkungen auf die Berichterstattung): In den USA wundert man sich ein bisschen über uns Deutsche und ihre Klima-Spinnerei, während wir Deutschen kaum aus dem Staunen herauskommen, wie sorglos die Amerikaner mit dem Thema umgehen (die Spiegel-Kollegin Anna Clauß hat das unlängst anschaulich erzählt).
Vom Journalismus erwartet man gerne so etwas wie Wahrhaftigkeit; das ist ein Begriff, der in gefühlt jeder Sonntagsrede zur Zukunft der Branche auftaucht. Logisch, weil: Wer kann schon ernsthaft etwas gegen Wahrhaftigkeit haben? Bei näherem Hinsehen wird allerdings schnell klar, dass man diesen Begriff zwar gerne verwenden, ihn aber schlecht mit Leben füllen kann. Weil die Frage offen bleibt: Was genau ist jetzt wahrhaftig? Die Greta mit 33 Suchergebnissen oder doch die mit über tausend? Der Stromausfall in Kanada oder die Naturkatastrophe auf den Bahamas?
Journalisten setzen Agenden – ob sie wollen oder nicht
Ob sie wollen oder nicht: In dem Moment, in dem Journalisten eine Auswahl treffen (und das tun sie naturgemäß andauernd), setzen sie eine Agenda. Man kann als Nutzer eine solche Agenda für sich selbst als relevant oder eher nicht erachten. Sie aber als falsch zu bezeichnen, ist in den allermeisten Fällen Unfug.
Für Journalisten wird die Welt dadurch aber kein bisschen leichter. Weil ihren Usern zunehmend mehr klar gibt, dass es sehr viel mehr Weltbilder und „Wahrheiten“ gibt als die, die sie von Journalisten bekommen. Im schlimmsten Fall brüllen sie dann „Lügenpresse“, in leichteren Fällen erkennen sie zumindest, dass man die Welt so sehen kann wie Journalisten, das aber nicht zwingend tun muss.
Das hat auch Auswirkungen auf den ökonomischen Teil der Branche. Ich bin mir sicher, dass es beim leidigen Thema „Bezahlen für Inhalt“ gar nicht mal so sehr um vermeintliche Gratis-Mentalität geht. Sondern eher darum, dass sich die Sichtweise des Nutzers auf das Produkt gewandelt hat. Weil er realisiert, dass er dabei gar nicht für die endgültige Sicht der Dinge und die ultimative Auswahl des Weltgeschehens bezahlt. Sondern für eine höchst subjektive Auswahl von Informationen und Meinungen.
So gesehen macht es nicht viel Sinn, wenn man Journalisten noch mehr Wahrhaftigkeit und vermeintliche Objektivitität zur Stärkung des Geschäftsmodells empfiehlt. Eher wird umgekehrt ein Schuh daraus: Strikte Orientierung an dem, was Kunden wollen.
Für fast jede Selektion gibt es gute Gründe
Das bedeutet aber auch: Journalisten sollten sich von der Idee verabschieden, irgendjemand missionieren zu können oder gar zu müssen. Wenn die SZ über tausend Mal über Greta berichtet, wird sie wissen warum. Wenn dem „Miami Herald“ 30 Nennungen genug sind, wird das ebenfalls Gründe haben.
Es geht also, ob Journalisten das gefällt oder nicht, weder um mehr Wahrhaftigkeit noch um die ebenfalls gern geäußerte, dennoch unsinnige These, „die Leute“ würden einfach nicht mehr so gerne lesen wegen der bösen Smartphones. Es geht ums Geschäft. Darum, mit seiner Auswahl von Informationen und ihrer Bewertung so nah wie möglich an denen zu sein, die dafür bezahlen (klingt verflixt unromantisch, ich weiß).
Deswegen sind die Zeiten auch so schwer für alle geworden, die für sich in Anspruch nehmen, eine Art übergeordnete Instanz für alle zu sein: Tageszeitungen oder öffentlich-rechtlicher Rundfunk beispielsweise. Aber wenn eine Gesellschaft in jeder Hinsicht mehr und mehr zersplittert, wenn es plötzlich Sechs-Parteien-Parlamente und enorm viele Singulär-Interessen gibt, wäre es ein Wunder, würde diese Entwicklung an Medien vorbeigehen.