In den letzten Tagen habe ich erstaunlich viele Nachrichten bekommen. Ihr Tenor (hier aus Gründen des Clickbaiting leicht zugespitzt): Bist du noch am Leben? Der Grund für die im Stundentakt eintreffenden besorgten Nachrichten: Ich halte mich seit knapp zwei Wochen in einem Katastrophengebiet auf. In Miami.Read More
Ok, wenn ich jetzt gerade aus dem Fenster sehe: Katastrophengebiet ist etwas übertrieben. Es ist ungefähr so windig wie an einem halbwegs normalen deutschen Herbsttag. Regen? Immer wieder mal ein paar Tropfen, das ist hier um diese Jahreszeit immer so? Ansonsten: Business as usual.
Und damit zu den Schlagzeilen deutscher Medien aus den vergangenen Tagen:
1 Million Menschen auf der Flucht!
Ostküste Floridas evakuiert!
Weite Teile der US-Ostküste evakuiert!
Undsoweiter.
Ähmmm….nö.
Geflüchtet ist hier niemand. Nicht hier, nicht weiter oben im Norden. Florida wurde, von ganz wenigen Ausnahmen in tiefer gelegenen Gebieten und in vorgelagerten Inseln, überhaupt nicht evakuiert. Der Notstand, wie berichtet, wurde zwar tatsächlich ausgerufen. Aber das ist in den USA eher ein formaler Akt, der häufig schon vor einem drohenden Unheil vorgenommen wird. Das hat damit zu tun, dass dieser Staat dann leichter Bundeshilfen anfordern kann. Wenn also irgendwo in den USA der Notstand ausgerufen wird, heißt das nicht, dass er schon eingetroffen ist. Es bedeutet nur, dass er eintreffen könnte.
Und ja, tatsächlich sind die Menschen hier beim Heraufziehen des Sturms in die Supermärkte gegangen und zu den Tankstellen gefahren, um sich mit Vorräten einzudecken. Es wäre auch dumm, das nicht zu tun. Der Betrieb war vergleichbar mit Deutschland ein paar Tage vor Weihnachten. Mehr los als sonst, aber nichts wirklich Wildes. Unser Tank war jedenfalls voll, unser Kühlschrank auch. Und die Leute waren ziemlich entspannt. Panik? Flucht? Wenigstens Angst? Nicht die Spur. Nicht mal bei uns, die wir einen richtigen Hurrikan noch nie mitgemacht haben.
Langweilige Geschichte also?
Wenn Sie so wollen: ja. Mit dieser Erzählung würde ich vermutlich nicht mal ein paar Freunde nach meiner Rückkehr zuhause beeindrucken. Das Dumme daran: Mit der Geschichte, so erzählt, würde man auch User einer Webseite, Leser einer Zeitung oder Zuschauer im Fernsehen eher langweilen.
Ja, aber – was ist mit den Bahamas, Georgia und den Carolinas?
Auf die dann tatsächlich eingetretene Naturkatastrophe auf den Bahamas kamen die deutschen Redaktionen erst, als sich das schaurig-schöne Narrativ von den bedrohten Millionen im Sunshine State Florida durch nichts mehr aufrecht erhalten ließ. Florida, Miami, USA, das kennt man halt, die Bahamas als kleine Inselgruppe im Atlantik eher nicht.
Irgendeinen anderen Dreh als 5 Tote auf einer kleinen Inselgruppe muss man doch irgendwie hinbekommen, dachte man sich dann anscheinend in manchen Redaktionen. Und handelten dann so, wie man es sich vorher in den schönsten Klischees hätte ausmalen können: Die „Süddeutsche“, der „Spiegel“, die „taz“ und die „Zeit“ schrieben Geschichten, dass solche Stürme künftig häufiger und schwerer ausfallen könnten (Klimawandel!). Hm. Mag sein. Lässt sich weder abstreiten noch belegen. Allerdings erinnere ich mich, dass der immer noch schwerste Hurrikan der US-Geschichte „Andrew“ nunmehr bald 30 Jahre zurückliegt und deswegen so zerstörerisch war, weil sich sein Verlauf kaum prognostizieren ließ und er kurz vor seinem Landfall die Richtung änderte.
Kommt Ihnen bekannt vor? Das sagt man über „Dorian“ gerade auch: Ursprünglich vermutete man ihn über Puerto Rico, er traf dann aber die Bahamas. Man erwartete einen Kategorie-5-Sturm über ganz Florida. Inzwischen sind wir bei Kategorie 3 und ob der Sturm jemals amerikanisches Festland erreichen wird, ist hochgradig unsicher. Laut Behörden ist es nicht „completly ruled out“. Übersetzt heißt das: sehr unwahrscheinlich. Jeder Offizielle, der etwas anderes behauptet, würde sich im klagewütigen Amerika einem unkalkulierbaren Risiko aussetzen.
Bei der „Bild“, die es mit Klimawandel nicht so hat, holte man sich als General-Absolution den hauseigenen Wetterexperten, der vor allem dadurch auffällt, regelmäßig Russen-Peitschen und Sahara-Hitzewellen anzukündigen, die meistens leichte Minus-Temperaturen sind oder ab und an mal drei Tage Hitze. Wenn es dann nicht so kommt, erklärt er gerne, warum das Wetter immer unberechenbarer wird (die Kollegen der SZ würden hier jetzt rufen: Klimawandel!). Der Bild-Wettermann jedenfalls erklärte dann heute, dass die Prognosen für Hurrikan-Stürme aus vielerlei Gründen wahnsinnig schwierig seien.
Womit er uns, wenn auch ungewollt, auf den journalistischen Kern der Geschichte zurückbringt. Ein Sturm über dem Atlantik ist immer eine potentielle Bedrohung. Was danach passiert, entscheidet sich leider erst kurzfristig, das macht die Sache ja so gefährlich. Alles andere ist Spekulation.
Trotzdem hat sich speziell bei dieser Thematik ein Automatismus entwickelt (leider auch in US-Medien, weswegen manche Politiker schon klagen, dass die Unwetter-Warnungen zunehmend weniger ernst genommen würden): Tödliche Bedrohungen ziehen herauf, Millionen Menschen sind auf der Flucht, rette sich, wer kann – und am Ende kommt es doch anders. Vor zwei Jahren beispielsweise waren wir an der Westküste Floridas, als Hurrikan „Irma“ im Anmarsch war. Die ganze Westküste wurde damals evakuiert, es sollte der schlimmste Sturm seit 100 Jahren dort werden. Tatsächlich traf „Irma“ in Miami auf Land, rund 500 Kilometer entfernt. Die Schäden blieben überschaubar, heute erinnert sich fast niemand mehr an „Irma“.
Das Interessante daran: Unterhält man sich mit Menschen in Florida, entdeckt man eine Gelassenheit, die diametral entgegengesetzt zum medialen Alarmismus steht. Wer hier länger lebt, macht das Spiel jedes Jahr mit. An den Highways hängen Plakate zur „Hurrican Season“: Be prepared, have a Plan! Das haben die allermeisten hier auch. So wie in Bayern die meisten Autofahrer routinemäßig ab Oktober die Winterreifen aufziehen.
Warum erzähle ich diese längliche Geschichte überhaupt? Sie ist in ihrer ganzen Banalität bezeichnend für das, was Journalismus zunehmend mehr in die Krise bringt. Weil er sich aus mehreren Gründen von der Realität und der Lebenswelt der Menschen immer mehr entfernt. Wer die ganzen Tage die Katastrophenszenarien liest und dann aus dem Fenster sieht, muss nicht gleich „Lügenpresse“ und „Fake News“ brüllen. Aber zumindest wundern darf er sich und leise Zweifel anmelden an der Vertrauenswürdigkeit des Mediums seiner Wahl.
Dabei kann ich schon halbwegs gut nachvollziehen, wie solche Dinge passieren. Auch das ist bezeichnend für vieles, was im Journalismus gerade passiert.
Erstens: Schneller, höher, weiter. Und spektakulärer. Ich gehöre tendenziell zu den Technik-Optimisten. Ich sehe aber auch, was das digitale Dauerfeuer aus Usern und Journalisten macht. Die Geschichte „Sturm über dem Atlantik, der sich möglicherweise zu einem Hurrikan entwickelt, das weiß man aber nicht genau“ interessiert niemanden. Die angebliche Million an Menschen, die „auf der Flucht“ sind, zieht ganz anders.
Zweitens: Keine Zeit zur Recherche und zum Fakt-Checking. Wer jemals am Desk einer Nachrichtenredaktion einer Webseite saß, der weiß, dass hier zwangsweise in einer Acht-Stunden-Maschinerie Geschichten rausgehauen werden. Bei manchen mehr, bei anderen weniger. Dass jemand die Zeit hätte, eine Geschichte nachzurecherchieren, noch dazu, wo sie möglicherweise von einer der geheiligten Agenturen kommt, ist utopisch. Man schaut bestenfalls, was die anderen machen. Und wenn die schreiben, dass in den USA Panik und Chaos herrschen, dann ist ja alles gut. Ein paar Klicks auf die Webseite beispielsweise des „Miami Herald“ hätten schnell gezeigt, dass die Geschichte von den Millionen, die angeblich auf der Flucht sind, schlichtweg nicht stimmt.
Drittens: Journalisten folgen dem eigenen Narrativ. Ich weiß, von einer Fehleinschätzung der Lage in Florida bis hin zu Relotius-Fälschungen ist es ein weiter Weg. Das Problem ist trotzdem das gleiche: Journalisten glauben etwas, weil sie etwas glauben wollen. USA, Florida, Hurrikan, Katastrophe, Flucht, klingt doch prima, was soll falsch sein daran? Das ist in dem Fall eher harmlos, zugegeben auch wenn die daraus resultierenden Klimawandel-Geschichten schon wieder einen ideologischen Dreh bekommen.
Aber das geht dann eben weiter bei den Geschichten über die Politik in den USA, wo es vor allem Journalisten waren, die einen Wahlsieg Trumps für ausgeschlossen hielten. Durchschnitts-Amerikaner jedenfalls waren und sind darüber keineswegs so erstaunt wie wir Journalisten. Was weniger mit Trump zu tun haben dürfte, sondern damit, dass Journalisten sich häufig von der Vorstellung leiten lassen, ihre eigene Realität müsse auch die der anderen sein.
Klar, niemand ist in Deutschland zu Schaden gekommen durch die neue Hurrikan-Posse (das Spiel wiederholt sich de facto ja schon seit Jahren). Im Zeitalter digitaler Hektik ist das genauso schnell vergessen wie fast alles andere, morgen weiß niemand mehr, wer „Dorian“ war.
Dass sich allerdings immer mehr Menschen ihre Informationen dort holen, wo man ihnen vermeintlich noch vertrauen kann, dieses Problem wird den klassischen Journalismus mehr und mehr begleiten. Das kann an den Leuten liegen. Vielleicht aber auch an den eigenen Strukturen, der Selbstverliebtheit und der Betriebsblindheit.
Schöner Text mit wichtiger Kritik am deutschen Journalismus, die sich sogar noch globaler aufdrehen lässt. Schließlich scheint es Hurrikans und Tornados ausschließlich über Nordamerika zu geben. Sicherr stürmt und regnet es aber auch mal über Asien oder Australien. Da müsste man aber viel mehr recherchieren und vielleicht sogar neue Grafiken anfertigen. Also wird lieber auf die nächste Katastrophe in den USA gewartet.
Pingback: Eine Frage des Geschäfts - JakBlog