Ein Video eines YouTubers zeigt mal wieder, zu welch überreizten, atemlosen und selbstgefälligen Veranstaltung Teile des Netzes geworden sind. Ihr fickt das Netz, würde der Blauhaarige vermutlich sagen. Read More
Nehmen wir mal Bremen, nur so als Beispiel. In Bremen, so heißt es u. a. in dieser Woche im „Spiegel“, ist fast alles ein bissschen schlechter als im Rest des Deutschlands. Wirtschaft, Bildung, Soziales, dem Stadtstaat geht es nicht gut. Meistens ist er im innerdeutschen Ranking Schlusslicht. Und wenn nicht, dann wenigstens auf den hinteren Plätzen.
Dafür gibt es Gründe. Mir fehlt der Einblick, um sie alle beurteilen zu können. Aber vermutlich sind es viele. Mal angenommen, ich würde jetzt sagen:
Nur die SPD ist schuld, die regiert in Bremen nämlich ununterbrochen!
Was würden Sie antworten? Wie man nur so einfältig sein kann? Dass das ein platter Claim und sonst nichts ist? Ob ich CDU-Mitglied sei und Propaganda machen wolle?
Vielleicht würden Sie all das sagen und vermutlich wäre Ihnen angesichts einer solch flachen Logik, die ich da vorgebracht habe, kaum zu widersprechen.
Es sei denn, ich wäre YouTuber.
Sie ahnen, worauf dieser Text rausläuft. Auf die eigenartige Debatte, die einen Teil des Netzes erfasst hat, seit ein junger Mann mit blauen Haaren haarklein und mit der Unterstützung Tausender Experten nachgewiesen hat: Die CDU macht Deutschland kaputt! Und jetzt macht dafür der Blauhaarige die CDU kaputt! Mit einer knallharten Abrechnung!
Das wäre an sich nicht weiter der Rede wert. Man muss die CDU nicht mögen, ebenso wenig wie man die SPD oder irgendeine Partei mögen muss. Man kann mit der CDU einer Meinung sein, muss man aber nicht. Nachdem wir immer noch in einer Demokratie leben, gibt es dafür: Wahlen (beispielsweise am Sonntag). Also, Haken dran. Der Blauhaarige hat millionenfache Aufmerksamkeit bekommen, die ihm hiermit vergönnt sei.
Dass er zum Retter der maroden Republik wird, weil er aufgedeckt hat, welch übles Spiel die Union hier treibt, darf mal bezweifeln. Wahrscheinlicher ist: noch zwei, drei Auftritte bei Will, Illner, Lanz, den Oberflächensurfern der Republik, dann hat jeder eine Meinung und übermorgen ist der Blauhaarige wieder vergessen. Fuck, yeah, wenn er wüsste, wie vergänglich der Ruhm in unserer Mediengesellschaft ist, ey, fuck, er hätte sich die Mühe dieses fucking guten Videos gar nicht erst gemacht.
Zum Thema Politik lernt man also aus den Plattheiten des Blauhaarigen eher nichts.
Wohl aber zum Zustand des Netzes. Oder besser: eines beträchtlichen Teils seiner Bewohner. Dieser Teil ist leider derjenige, der sich selbst für den maßgeblichsten hält und den Rest der Welt mit Kolumnen, Blogs, Podcasts und Vorträgen drangsaliert, an der eigenen Bedeutung für die liberale Welt keine Zweifel hegt und manchmal auch noch ähnlich lächerliche Haarfarben hat wie der Blauhaarige.
Dieser Teil also schnappatmet gerade. Nicht nur, dass der Junge es der CDU mal so richtig besorgt hat. Und nicht nur, dass es eine Unverschämtheit ist, dass nicht mindestens die Kanzlerin mit einer Regierungserklärung auf die Blauhaarigen-Kritik reagiert hat. Der ganze Vorgang zeigt doch auch, wie sehr die CDU eine ganze Generation verloren hat. Erst das Urheberrecht. Und jetzt dieses Desaster.
Was man mitnehmen kann daraus: Aus der ausgeruhten politischen Debatte wird überreizte Atemlosigkeit, die sich insbesondere darum dreht, warum die CDU nicht verdammt noch mal schon lange auf den Blauhaarigen geantwortet hat. Krisenkommunikation als Dauerzustand und am Ende wundern wir uns dann wieder alle, warum Politik so oberflächlich geworden ist. Und dieser Journalismus erst!
Debatte erfordert manchmal sowas wie Nachdenken. Sich Zeit nehmen. Diese Zeit bleibt immer weniger, wenn Figuren wie Mesut Özil oder der Blauhaarige im Netz Sprengsätze legen und eine aufgeregte Meute sofort nach Antworten und Reaktion brüllt.
Einschub 1: Das Motto der re:publica Anfang Mai hieß tl;dr und beinhaltete in etwa, dass man sich die Zeit nehmen soll, Dinge auch mal sacken zu lassen. Sehr lustig, dass die Veramstaltung gerade zwei Wochen vorbei ist und die Meute schon wieder aufs Tempo drückt.
Einschub 2: So ganz nebenher finde ich den Umgang mit Phillip Amthor ziemlich widerlich. Man muss ihn nicht mögen und auch nicht seine Ansichten teilen, aber wie er gerade aufgrund von Äußerlichkeiten zum Idioten gemacht wird, ist grenzwertig. Noch dazu ausgerechnet sehr häufig von Leuten, die ansonsten bei Witzen über Namen, Geschlecht, Äußerlichkeiten keinerlei Spaß verstehen und sich dabei gerne als die Moral-Netz-Polizei aufspielen. Der Blauhaarige ist also cool wegen seiner blauen Haare und Amthor ein Deep wegen seines Beamten-Habitus? Interessant, am liebsten würde man aufschreien, wenn dieser Hashtag nicht für alle Zeit verbrannt wäre.
Full Ack, jak!
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