Seit Freitag versuche ich, den neuen „Spiegel“ zu lesen. Das schaffe ich nur so mittelgut und ich bin mir ziemlich sicher: Wenn man versucht, den „Spiegel“ zu lesen, dann merkt man erst, was Claas Relotius angerichet hat. Read More
Erster Versuch, eine Geschichte über die möglicherweise neuen Flüchtlingsrouten in Europa: Der typische Spiegel-Reportersound, szenische Rekonstruktionen nennt man das, wie ich inzwischen weiß. Nichts Ungewöhnliches, alles ok. Ich kann es trotzdem nicht lesen, weil es irgendwo in meinem Hinterkopf spukt: Und was, wenn da einer einfach wieder nur ein bisschen dazu fantasiert? Weil die Geschichte, wenn man sie denn einfach so erzählen würde wie sie ist, gar nicht so spannend wäre?
Das ist natürlich hochgradig unfair, weil mutmaßlich der allergrößte Teil der „Spiegel“-Reporter anständige, sehr gute Journalisten sind. Aber das dachte man von Relotius auch und schon alleine an diesem Gedankengang erkennt man, wie sehr dieses schleichende Gift der Relotius-Lügen wirkt. Selbst dann, wenn man dem „Spiegel“ und dem Rest des Journalismus gar nichts Böses will.
Zweiter Versuch, das umfangreiche Paket der Aufklärungsgeschichten über den Fall Relotius. Und wieder dieses typische Spiegel-Reporter-Deutsch. Formulierungen über den perfekten Sturm, der sich gerade zusammenbraut über dem „Spiegel“. Wieder dieses Gefühl, man solle es doch einfach mal gut sein lassen mit diesem halb-literarischem Kram. Und wieder das Gefühl, dass sich , ausgerechnet er, der große, toughe „Spiegel“ in erster Linie als Opfer sieht. Als ein Opfer, das er zweifelsohne ist. Aber eben auch eines, dass nicht ohne eigenes Zutun dazu geworden ist.
Wie auch immer, dieses kapitale Totalversagen als redaktionelle Einheit lediglich auf einen in der Tat ziemlich durchtriebenen 33jährigen Reporter schieben zu wollen, liest sich unschön. Und dann legt man den „Spiegel“ eben wieder weg, um festzustellen: Man kann bis auf weiteres den „Spiegel“ nicht mehr lesen, ohne diesen Relotius-Mist im Hinterkopf zu haben. Man muss dazu nicht mal Verschwörungsthoretiker oder bei der AfD sein.
Klusmann trifft den richtigen Ton
Allerdings, es gibt auch gute Nachrichten. Der künftige Chefredakteur Steffen Klusmann hat in seinen neuen Einlassungen dazu endlich den richtigen Ton getroffen. Den hatte das Haus insbesondere in den Fichtner-Elogen bisher vermissen lassen. Klusmann ist nüchtern im Ton, klar und hart in der Sache – und kein bisschen selbstmitleidig. Klusmann beschreibt den Fall als das, was er ist. Ein Totaldesaster für die ganze Branche, aus dem man ganz dringend Lehren ziehen muss.
Was ich allerdings auch immer wieder im Hinterkopf habe: Die Causa Relotius ist nicht nur system-, sondern auch personenimmanent. Die Selbstverliebtheit, das grenzenlose Ego, das viele Journalisten gerne vor sich hertragen, war und ist auch in der Debatte über den Fall Relotius spürbar. Eitelkeiten und Empfindlichkeiten allerorten, die ich nicht beim Namen nennen mag, weil sich die Spirale aus Eitelkeiten und Empfindlichkeiten immer weiter dreht. So viel sei trotzdem gesagt: Die heftigsten Kritiker der Branche sind gerne auch die eitelsten und empfindlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann.
Natürlich würde ich nie soweit gehen wie Jörg Thadeusz, der sich vom Journalismus stellenweise „angeekelt“ fühlt. Aber mehr denn je denke ich mir: Das System mag im Fall Relotius speziell und im Journalismus generell eine entscheidende Rolle spielen. Die handelnden Personen allerdings tun das in einem nicht viel geringerem Maße.
Ob “MAN“ den Spiegel nicht mehr lesen kann, ohne diesen Mist im Hinterkopf zu haben, das weiß ich nicht. Ich jedenfalls kann schon.
Ich muss aber auch nicht mehr jede Empörungswelle aufgrund eines menschlichen Versagens reiten.
Herzlichen Glückwunsch. Du hast den grossen Skandal hinter dem kleinen Skandal entdeckt.
Für mich ist es eigentlich kein Skandal, dass die Presse lügt, das ist deren Job. Für mich ist es der eigentliche Skandal, dass überhaupt jemand der Presse glaubt, Nicht erst seit Relotius, sondern überhaupt.
Als Individuum weiss man nur das, was man selber weiss. Was andere sagen, behaupten, erzählen und erdichten ist Hörensagen. Warum sollte ich das für bare Münze halten, die ich iim übrigen anfassen kann.
Warum sollte ich als Mensch also anderen Menschen so glauben, wie scheinbar der Durchschnittsmensch den Journalisten und Nachrichtensprechern? Absurd, dumm und letztlich selbst schuld.
Wer ist der Dumme, der Narr, oder der, der dem Narren hinterherläuft?
http://www.youtube.com/watch?v=Sx_1oYGtKYM Und auch deshalb bitte kein Wegsehen hiervon: „… Ein 4-köpfiger Rechercheverbund, körperlich und wirtschaftlich geschädigt, in seiner Existenz vernichtet. Das NDR-Medienmagazin ZAPP berichtete ebenso als JournalistenBlatt und BILD, wie auch Lutz Tillmans, Geschäftsführer des Deutschen Presserates, eindeutig Stellung bezog. 39 Strafverfahren gegen JournalistInnen im Rahmen ihrer Tätigkeit sind alleine in Sachsen bekannt: das bundesweit Aufsehen erregende Verfahren gegen die Leipziger Journalisten Datt und Ginzel war im Zusammenhang mit dem Sachsensumpf also nur die Spitze des Eisberges. …“? Abarbeiten am Ausland ist eben einfacher, als das unbequeme Kehren vor der eigenen Haustüre! Kollegialität und Zivilcourage bleiben jedoch auf der Strecke!