Neu auf dem Markt: die Tagesschau-App 2.0. Sie ist ziemlich chic geworden, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, man sitze vor einer Kreuzung aus Buzzfeed und Snapchat…
Videos im Mittelpunkt, das Format ist (fast) egal
Die „Tagesschau“ orientiert sich eindeutig an dem, was sich in den vergangen Monaten als Standard in den sozialen Netzwerken herauskristallisiert hat: eindeutiger Schwerpunkt auf kurzen Videos, die kurz und prägnant zur Sache kommen. Und die, Text-Inserts sei Dank, auch ohne Ton auskommen. Überhaupt sieht die App an vielen Stellen aus, als hätte sie sich jemand ausgedacht, der viel im sozialen Netz unterwegs ist und das meistens mit dem Smartphone. Was kein Nachteil sein muss, zumal man dann bei genauerem Hinsehen doch erkennt, dass die gute alte „Tagesschau“ dahinter steckt.
Die Debatte „Hoch- oder Querformat“ hat die Redaktion übrigens elegant entschieden: Mit einem „sowohl als auch“. Die Redaktion nimmt für sich in Anspruch, weltweit die erste News-App zu sein, die Videos in beiden Varianten im gewohnten 16:9-Format zeigt. Ob das stimmt, kann ich natürlich nicht beurteilen, aber es ist zumindest eine sehr angenehme Sache, wenn man sich nicht entscheiden muss. Persönlich mag ich querformate Videos deutlich lieber. Aber wer wollte bestreiten, dass sich die Hochformat-Seher zunehmend mehr durchsetzen?
Für die Technik-Nerds unter den Lesern: Diese Wahl zwischen Quer- und Hochformat ist auch deswegen vergleichsweise einfach möglich, weil die Redaktion ein spezielles Cropping-Tool verwendet. Für jedes Einzelbild wird sofort eine Hochkant-Variante vorgeschlagen. Praktische Sache, das.
Small-Screen-Videos sind endgütig zum Massenphänomen geworden
Klar aber ist: Kurze Videos mit Text-Inserts, hochformatige Videos, Video als das allgegenwärtige Erzähl-Tool ist endgütig im Massenmarkt angekommen. Willkommen in der Digital-Welt 2017!
Dafür spricht auch, dass die Standard-Startseite der App so aussieht, als sei sie gerade bei Buzzfeed entlaufen. Oder als ob sie den Träumen eines gemäßigt radikalen Snapchat-Entwicklers entstammt. Ganz viel bewegtes Bild, nahezu kein Text mehr. Nebenbei bemerkt müsste der Verlegerverband jubeln, er hat aber reflexartig gemault, dass das natürlich alles nicht ausreicht.
Die Videos bzw. Slideshow starten schon auf der Seite, ohne dass man dafür etwas tun muss. Das ist an manchen Stellen etwas verwirrend, vor allem, wenn es sich um animierte Fotos oder um Slideshows ohne Ton handelt. Dann hat man, sofern man den Ton anhat, ein leicht irritierendes Brummen im Hintergrund. Keine Ahnung, ob ich nur zu doof war, um das herauszufinden, aber zumindest bei Fotos finde ich Brummen im Hintergrund befremdlich.
Personalisierung und Chatbot-Optik: Alles drin
Was es sonst noch gibt? Die Tagesschau-App ist jetzt konsequent und bis ins letzte Detail personalisierbar. Und wer sich auf die Suche begibt, bekommt jetzt nicht einfach irgendein Suchfeld, sondern eine Optik, die bewusst an den aktuellen Chatbot-Hype („Was möchtest du noch wissen?“) angelehnt ist.
Auch da ahnt man mittlerweile: Das ist die Richtung, in die die App- und Mobile-Züge in den kommenden Monaten fahre werden. Und damit letztendlich der ganze digitale Jornalismus. Das sich jemand mühselig durch eine Homepage und ihr im Regelfall gigantisches News-Angebot arbeitet, wird immer mehr die Ausnahme denn die Regel.
Daumen rauf oder runter?
Ganz eindeutig ist die Tagesschau-App das, was man so schön „State of the art“ nennt. Ein bisschen wirkt sie, als hätte jemand einen Blick in ein imaginäres Lehrbuch geworfen und dann alles reingepackt, was er im Kapitel „Innovationen 2016“ gefunden hat. Das klingt jetzt möglicherweise böser als es gemeint ist, zumal man den öffentlich-rechtlichen ansonsten ja immer gerne einen gewissen Verstaubtheitsgrad vorwirft. Alles in allem ist sowas wie ein App-Musterschüler rausgekommen. Und wie das so ist mit den Musterschülern: An ihnen gibt es nichts auszusetzen, aber insgeheim wünscht man ihnen trotzdem mehr Coolness.
Für mich selbst habe ich entdeckt, dass das Alter immer öfter seine ganzen Tücken zeigt. Ich werde mich daran gewöhnen müssen und werde mich auch sicher dran gewöhnen. Aber sagen wir es mal so: Die „Tagesschau“ hat mir ungewollt auch all das vor Augen geführt, was ich an Snapchat nicht sonderlich mag…