Tageszeitung, neu gedacht

Ich habe eine neue Tageszeitung abonniert. Sie heißt – Blendle. Bei diesem Projekt gibt es eine ganze Reihe verblüffender Parallelen zwischen der Verlagswirtschaft und der Musikindustrie…

blendle

Inzwischen freue ich mich fast jeden Tag wieder auf meine Tageszeitung. Irgendwann am frühen Morgen stelle ich sie mir selber zusammen. Weil dann eine Mail kommt, bei der mir die bestmögliche Redaktion zusammen stellt, was ich lesen könnte. Die bestmögliche Redaktion ist deswegen bestmöglich, weil sie aus Kuratoren besteht. Und weil ich vorher schon angegeben habe, was und wer mich interessieren könnte.

Kleine Auswahl aus dem Wochenend-Programm gefällig? Eine Geschichte aus der FAS, eine aus der Welt am Sonntag, eine aus der Zeit, eine aus dem Tagesspiegel. Querbeeet, was die Themen angeht, von Wirtschaft über ein klassisches Gesellschaftsthema bis hin zur unvermeidlichen Digital-Geschichte. Sieht man davon ab, dass ich keine Ahnung habe, wann ich das alles mal mit Verstand lesen soll, habe ich selten so viel Vergnügen an der Lektüre meiner „Tageszeitung“ gehabt.

Noch dazu, wo ich mir einbilde, damit auch noch meinen aktiven Beitrag zum Ausbruch aus der eigenen „Filter Bubble“ zu leisten. Weil ich es mir erlaube, auch mal Geschichten aus Blättern zu lesen, die anderen „Filter Bubbles“ angehören. Siehe FAS und WamS. Von beiden wären mir möglicherweise ganze Ausgaben zuviel, schon alleine deshalb, weil das Wochenende mit der umfangreichen SZ am Wochenende und dem „Spiegel“ schon ziemlich vollgestopft ist und ich bei aller Begeisterung weder Zeit noch Lust habe, mir dann auch noch zwei ziemlich fette Sonntagszeitungen zu geben.

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Am Rande bemerkt: Erstaunlich, dass es eine solche funktionierende Lösung erst im Jahr 2015 gibt. Schon in den 90er Jahren gab es eine ganze Reihe kluger Menschen, die genau das prophezeit haben. Das Menschen irgendwann mal sich ihre „Zeitung“ selber zusammenstellen werden. Gut, die Phantasie der damaligen Propheten reichte noch nicht so weit, sich Dinge wie „Blendle“ vorzustellen; man hing damals noch mehr der Vorstellung nach, eine Zeitung müsse unbedingt auf Papier erscheinen und könne bestenfalls aus dem Drucker kommen. Aber das Prinzip war schon damals in den 90ern klar: Nicht mehr eine Redaktion macht eine Zeitung und die muss mann dann lesen. Stattdessen: Die Zeitung besteht in Wirklichkeit aus ganz vielen.

Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, die für dieses Modell sprechen. Der Wichtigste:  Nach wie vor haben wir es ja gerne, wenn uns Meldungen und Geschichten nicht einfach vor die Füße geworfen werden. Unverändert hat die Arbeit einer Redaktion ihre Berechtigung und Bedeutung. Und nach wie vor ist guter Journalismus eben dann doch etwas anderes als ein latent überforderndes Sammelsurium im Netz. Das Prinzip „Zeitung“ ist also immer noch ein gutes, wenn man sich von dem Gedanken verabschiedet, es müsse immer eine Papiervariante sein. Neu kommt bei diesem Modell dazu, dass die Auswahl plötzlich immens groß ist, dass man viele Geschichten dazu bekommt, die man schon früher gerne gelesen hätte, man aber deswegen nicht gleich eine ganze Zeitung kaufen wollte.

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Dämmert was? Das alles klingt sehr nach der Argumentation, die es vor einer Dekade schon gab, als plötzlich eine Software namens iTunes die Musikwelt umkrempelte. Was übrigens auch gar nicht verwunderlich ist – ein „iTunes für Verlage“ ist schon lange gefordert worden. Und nichts anderes ist ein Ding wie „Blendle“ unter dem Strich. Ein Tool, dessen womöglich größtes Plus die Entbündelung ist. So, wie man damals bei iTunes plötzlich in der Lage war, nur die Stücke von einem Album zu kaufen,  die man wirklich mochte, so kann man das nunmehr genauso bei Zeitungen machen.

Das ist übrigens keine Entweder-Oder-Entscheidung. Die Zeitung als Produkt wird nicht daran kaputt gehen, wenn man sie jetzt auch in Einzelteilen kaufen kann. Im Gegenteil, es wird ihr gut tun. Weil potenzielle Leser viel eher mal einen Anreiz bekommen, mehrere Stücke oder womöglich eine komplette Ausgabe zu kaufen. Das Musik-Album ist übrigens, aller Unkenrufe zum Trotz, auch nicht untergegangen, obwohl man plötzlich auch jedes Stück einzeln kaufen konnte.

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Und noch eine auffällige Parallele gibt es zwischen iTunes und Blendle. Beide Lösungen beeinflussen massiv einen bisherigen Wirtschaftszweig, beide kommen von extern. Weder die Musikindustrie noch Verlage haben ein solches Ding auf die Beine gestellt, aus welchen Gründen auch immer. Beiden werden nun wesentliche Teile ihres Geschäftsmodells von branchenfremden Unternehmen aufgezwungen. Dass Springer Anteile an Blendle hält zeigt, dass sie es wenigstens da verstanden haben mit der Digitalisierung.  Die meisten anderen haben interessiert zugesehen, das war es aber dann auch schon. Gut, die Musikindustrie hat es auch überlebt und freut sich heute, dass sie mit Modellen wie iTunes oder inzwischen Spotify wieder Fuß gefasst hat. Klar ist aber auch, dass jetzt auch im Journalismus ein branchenfremdes Unternehmen Spielregeln vorgibt.

Blendle sei es vergönnt. Die Jungs haben einen guten Job gemacht und mal wieder gezeigt, dass es keinen Sinn macht, an Geschäftsmodellen festhalten zu wollen, deren Zeit einfach abgelaufen ist.

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