Gelegentlich gibt es Debatten, über die man nur den Kopf schütteln möchte. Vor allem dann, wenn sie im (sozialen) Netz mal wieder mit einer Vehemenz geführt werden, dass man meinen könnte, die Welt sei akut vom Untergang bedroht. Und wenn sie über Dinge geführt werden, die man bestenfalls als irrelevant bezeichnen könnte.
Was ist passiert? Die Kanzlerin ist in Rostock mit einigen Kindern und Jugendlichen konfrontiert worden. Dabei u.a. auch mit einem Mädchen, das seit ein paar Jahren mit ihren Eltern in Deutschland lebt und dessen Familie mittlerweile von der Abschiebung bedroht ist. Das Mädchen beginnt zu erzählen von ihren Träumen von einem Leben in Deutschland und vor allem von Teilhabe. Es erzählt davon, wie unerträglich es ist, immer nur den anderen zuzuschauen, wie sie ein gutes Leben führt, während man selbst davon ausgeschlossen ist.
Und Angela Merkel macht…ja, was macht sie eigentlich? Darüber streitet das Netz mit einer Vehemenz, die man wahlweise entweder verblüffend nennen kann, wenn man das Netz nicht so gut kennt. Oder typisch, wenn man die Neigung zu Aufgeregtheit insbesondere in sozialen Netzwerken schon ein bisschen durchdrungen hat. Man kann in die Reaktion der Kanzlerin nahezu alles interpretieren. Man kann sie als unbeholfen betrachten, was offen gestanden auch mein Eindruck ist. Man kann sie als kalt und hart wahrnehmen, weil sie in der Gegenwart der Kinder eben nicht die liebe Mutti gegeben hat.
Man kann noch etliche andere Dinge vermuten, die man so vermuten kann, wenn man ein bisschen Küchenpsychologie betreiben will. Nachdem aber wahrscheinlich 99 Prozent derer, die da debattierten, die Kanzlerin gar nicht oder so wenig kennen, dass sie sich kaum ein Urteil erlauben können, bleibt alles eben nur: Spekulation. Küchenpsychologie. Eine Sache, die irgendein Gefühl trifft, aber keineswegs die Ratio. Oder womöglich sogar Wissen.
Die Macht der Bilder und der sozialen Netzwerke
Deswegen würde ich an dieser Stelle diese Debatte auch gar nicht fortführen wollen. Ich weiß nicht, ob es Absicht oder unfreiwillig war, aber Sascha Lobo hat die Debatte an ihren Punkt gebracht: Wenn man das Problem habe, Angela Merkel sympathisch zu finden, müsse man sich nur mal dieses Video anschauen, twitterte er. Genau das ist (leider) der Punkt: In dieser ganzen aufgeregten Debatte geht es ja nicht mal so sehr um handfeste Politik. Sondern um die Frage, ob man Frau Merkels Auftreten nun sympathisch findet oder nicht. Was nebenbei bemerkt ziemlich perfide ist: Den emotionalen Kampf gegen ein herzzerreißend weinendes junges Mädchen gewinnt niemand, nicht mal Sascha Lobo.
Die Geschichte mit der Kanzlerin zeigt aber auch exemplarisch anderes: die Veränderung von öffentlicher Wahrnehmung und Meinungsbildung. Es ist eine hübsche Ironie, dass innerhalb einer Woche zweimal die Kanzlerin daran beteiligt war, uns diese Veränderungen vor Augen zu führen. Erst ließ sie sich von einem YouTuber interviewen (noch so ein Riesenaufreger!), danach löste sie einen veritablen Shitstorm aus. Merkels Karriere in 20 Jahren: Mädchen, Mutti, Monster. Die hässliche Deutsche schlechthin, sogar für uns Deutsche. Man debattierte also über Bilder, über Emotionen, über sehr viele Dinge, von denen man wenig bis gar nichts weiß – weswegen am Ende das eigentliche Thema ein bisschen kurz kam, weil man über die Problematik der Flüchtlingspolitik nicht so viel reden konnte, wenn man doch erst einmal verhandeln muss, wie die Kanzlerin ticken könnte, also so rein emotional.
Aber so entstehen mittlerweile PR-Desaster. Man muss nicht lange darüber debattieren, ob man das sinnvoll finden soll. Natürlich ist es das nicht. Es ist einfach so. Ein paar ungünstige Bilder, ein paar Posts der Klassensprecher in der Filter Bubble, schon ist man mittendrin in der schönsten Empörungswelle. Und wie das eben so ist mit Empörung: Sie ist erst mal laut und alles andere niederwalzend und lässt nur ganz wenig Zeit und Raum, um eine Debatte um das eigentliche Thema zu führen.
Es kann jeden treffen, je nach dem, wie die Befindlichkeiten gerade stehen
Ist das also jetzt gerade eine Verteidigungsrede für die Kanzlerin? Natürlich nicht, ebenso wenig wie eine Kritik an ihr. Weil es bei diesen ganzen Geschichten nicht um die Kanzlerin geht. In der publizistischen Erregungsmaschine kann es jederzeit jeden treffen. In dieser ganzen Überreiztheit ist zunehmend weniger Platz für Zwischentöne. Ist die Merkel jetzt gut oder böse, kann man Gauck wählen oder nicht, geht die Welt unter oder bleibt sie doch noch stehen?
Und ja, leider sind es nicht ganz selten die populistischen Lautsprecher, die am ehesten gehört werden, wenn alle durcheinander brüllen. Über die Flüchtlinge wurde während #merkelstreichelt eher weniger geredet und das arme Mädel, das ungewollt Auslöser für den ganzen Irrsinn war, das führt man jetzt gerne ein bisschen spazieren, man würde es selbstverständlich begrüßen, wenn sie und ihre Familie nicht abgeschoben würden – ja, und dann? Krault man sich das Bauchilein und findet sich selbst toll, weil man wieder was Gutes getan hat?
Schön wäre es also in der besten aller Welten, wenn wir wieder über Dinge debattieren könnten und weniger über verunglückte Auftritte, umstrittene Zitate oder alles andere, was in Zeiten der Macht der Bilder und der sozialen Netze gerne etwas wohlfeil ist.
Dass das vermutlich ein sehr frommer Wunsch bleiben wird, das ist sogar mir klar.