Live is life

Erst gehypt, dann totgeschrieben – und jetzt eine existentielle Bedrohung des menschlichen Verstands: Das Thema Livestreaming hat in verblüffend kurzer Zeit alle Phasen der medialen Hysterie durch. Ein guter Grund, jetzt mal in Ruhe darüber zu reden.

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Will man ein bisschen was wissen über unsere Branche, über ihre ganze Überdrehtheit, die gelegentlich an Hysterie grenzt – man muss nur einen Blick auf die Debatte um eine App werfen, die gerade eben noch die Zukunft des Journalismus einläuten sollte. Und von der jetzt schon wieder kaum jemand mehr spricht. „Meerkat“ ist ein Synoym dafür, warum es manchmal schwierig ist, über den Journalismus der Zukunft halbwegs unaufgeregt zu diskutieren.

Die SXSW ist vor gut fünf Wochen zu Ende gegangen. Wenn man sie ein bisschen mitverfolgt hat, kann man leicht zu dem Eindruck kommen, sie habe sie ausschließlich um „Meerkat“ gedreht. Wenn in dieser Woche die re:publica in Berlin beginnen wird, dann ist die Prognose nicht allzu gewagt, dass man von „Meerkat“ nicht mehr allzu viel hören wird. Das ist auch für Digital-Verhältisse ein verblüffend schneller Verfall. Selbst dann, wenn man noch die gänginge Journalisten-Hysterie einpreist, die eindeutig für mehr Wirbel gesorgt hat, als die App in Kreisen außerhalb der digitalen Filter-Bubble jemals hervorgerufen hat. Genauer gesagt: In meinem Freundeskreis außerhalb der Bubble hat den Namen „Meerkat“ bis dato noch nie jemand gehört.

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So viel also erst einmal zu den leidigen Hysterie-Mechanismen, die unsere Branche beherrschen. Zu diesen Mechanismen gehört auch, dass sich kurz nach dem Abklingen der ersten Welle zuverlässig jemand findet, der das baldige Ende des Hypes voraussagt und nebenbei bemerkt, er habe das ja schon immer gewusst. Das ist in diesem Fall allerdings ein bisschen zu einfach. Weil man die Dinge trennen muss. Das eine Ding ist eine App, leicht überschätzt womöglich, die kurz nach dem ersten Boom schell wieder auf Normalmaß gestutzt wird.

Das andere ist ein potentiell auch journalistisch nutzbarer Kanal. Unbestritten ist, dass Livestreaming selbstverständlich eine Sache ist, über die wir Journalisten uns Gedanken machen müssen. Schon alleine deswegen, weil wir ja aus inzwischen 20 Jahren Digitalisierung-Erfahrung eines wissen sollten: Wenn wir es nicht tun, machen es andere. Davon abgesehen: Die Übertragung von Live-Bildern irgendwo hin in die Welt ist ja nichts wirklich Neues. Genau genommen gibt es da schon seit über einem halben Jahrhundert, man nennt das Fernsehen.

Die Frage danach, wie viel inhaltlichen Sinn dieses Live-Streaming macht, ist natürlich berechtigt. Irgendwas zu streamen, was keiner sehen will, führt nicht allzu weit. Aber bisher war es mit jedem neuen Kanal so, der irgendwann mal journalistische Relevanz bekommen soll: Erst mal wird ausprobiert, naturgemäß mit irgendwas. Irgendwann kommt dann dieser eine Moment, der zeigt, dass man über diesen Kanal durchaus Sinnvolles verbreiten kann. Bei „Twitter“ war das seinerzeit die Landung eines Passagier-Jets im Hudson River in New York.

Beim Thema Livestreaming hat es den eine kleinen Moment auch schon gegeben. Nicht so spektakulär wie damals New York und auch nicht so öffentlichkeitswirksam. Trotzdem: Wie der „Guardian“ mit „Periscope“ die Unruhen in Baltimore gecovert hat, war ein sehr brauchbarer Ansatz. Zumal der „Guardian“ das Material anschließend aufbereitet und somit den berechtigten Befürchtungen, Livestreaming werde unreflektiertes Zuballern mit Irgendwas, einiges entgegen gesetzt hat.

Man muss ja nicht gleich so weit gehen und behaupten, Livestreaming werde den Journalismus in seinen Grundfesten verändern.  Wohl aber wird Livestreaming zu einer echten Option für Journalismus. Immer dann, wenn es etwas zu berichten gibt. Man sollte da den User nicht unterschätzen: Wenn es nichts zu berichten gibt, wird er mutmaßlich auch nicht einschalten.

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Natürlich kann man die Gefahr sehen: Wenn wir überflutet werden von nicht mehr zu erfassenden Mengen von Echtheit-Mitteilungen, von Tweets, Statusmeldungen, Fotos und (Live-)Videos, dann droht irgendwann der Blick für das Wesentliche verloren zu gehen. Würde man sich nur von Echtzeit-Journalismus ernähren, man würde viel erfahren und am Ende doch nichts wissen. Bis dahin haben Skeptiker also durchaus recht.

Nur: Wer will das schon und wer macht das schon? Bisher war die Menschheit immer noch klug genug, nach der Aufnahme der ersten Information auch Hintergründe, Einschätzugen, Kommentare zu wollen. Die Zyklen, in denen wir neue (Echtzeit-)Informationen bekommen, sind im digitalen Zeitalter nochmal kürzer geworden. Und trotzdem nur eine konsequente  Weiterentwicklung der letzten 200 Jahre.

Ebenso wenig neu sind übrigens Kulturpessimisten, die mit der Verschärfung des Tempos und der größer werdenden Menge an Informationen die Menschheit kurz vor der Verblödung sahen.  Das hieß es bei der Einführung der Tageszeitung, des Radios, des Fernsehens und übrigens auch – des Internets. Bisher haben wir mehr Tempo und mehr Information ganz gut überstanden. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich daran auch durch ein paar Livestreams nichts ändert.

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