Tilo Jung wird gerade öffentlich gesteinigt. Während ein anderer Krautreporter einen Nebenjob beim Bundespresseamt hat. Das weckt langsam Zweifel daran, ob nicht die Hysterie die vernünftige Debatte im Netz verdrängt.
Gerade eben stelle ich mir vor, wie Tilo Jung zerknirscht in einer Ecke sitzt. Er sucht seine blinden Flecken, geht in sich, arbeitet an sich und seinen Schwächen und sucht in der Zwischenzeit nach der Telefonnummer eines guten Therapeuten, der ihm erklärt, warum er sich immer so garstig verhält. Und wie er das ändern kann. Einmal in der Woche wird er in die Teamsitzung bei den Krautreportern einbestellt und berichtet von seinen Fortschritten. Demnächst dann trifft sich die Wiedereinstellungs-Kommission, bei der ausgewählte Krautreporter gemeinsam mit Juliane Leopold und Anne Wiezorek entscheiden, ob Jung jetzt weitermachen darf als richtiger Krautreporter oder doch nicht.
Der Fall Tilo Jung also, ein wunderbares Exempel dafür, wie hysterisch zum einen das Netz tickt, welche erstaunlichen Prioritäten dort gerne gesetzt werden. Und wie diese ganze Geschichte mit den Krautreportern gerade auf dem schlechtesten Weg ist, zu einem eher unschönen Ende zu kommen. Vielleicht oder gerade weil sich dort viele Protagonisten aus einer Szene treffen, die gerade ein kleines bisschen hyperventiliert und das auch zum Lebensmotto erkoren hat. Zumindest wundert mich nichts mehr in einem Metier, in dem ein #Aufschrei mit einem Grimme Online Award honoriert wird. Aufschreie mögen ja schön und gut sein, aber sie sind eben auch laut und schrill und verstellen gerne mal den Blick auf das Wesentliche. Wie das halt so ist, wenn man schreit statt mal in Ruhe nachzudenken.
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Und weil das so ist, kommt hier erstmal mittendrin der freundliche Hinweis: Ich fand Tilo Jungs umstrittenen Instagram-Post nicht sonderlich lustig. Eigentlich gar nicht. So richtig anspringen wollte meine persönliche Empörungsmaschine aber trotzdem nicht. Es gibt zu viel Unsinn auf der Welt und im Netz, als dass ich jedesmal die Betriebstemperatur eines Kernkraftwerks erreichen könnte, wenn ich einen solchen Unsinn sehe. Dazu sind mir meine Zeit und meine Gesundheit zu schade. Es gibt Dinge, die muss man einfach an sich vorbei treiben lassen. Aber bevor mich jetzt jemand für einen versteckten oder auch offenen Sexisten hält: Die Tatsache, dass ich mich nicht über jede Dummheit öffentlich echauffiere, bedeutet natürlich nicht, dass ich sie goutiere. Punkt, Ende der Durchsage.
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Jung also steht auch Tage nach dem missratenen Posting immer noch am Pranger. Er entschuldigt sich, die Krautreporter distanzieren sich so halbwegs von ihm, das corpus delicti ist gelöscht. Trotzdem hat es dieser Unsinns-Post in nahezu jeden Mediendienst dieses Landes geschafft und nach wie vor wird debattiert, als wenn die Grundsatzfrage zu klären wäre, ob Jung jemals auch nur einen einzigen Satz wird publizieren dürfen. Das ist ein bisschen viel der Aufregung um ein Posting, das man, wie gesagt, nicht mögen muss. Der wie immer stoisch unaufgeregte und kluge Felix Schwenzel hat im Übrigen den einzig treffenden Satz zum Thema Jung und die Krautreporter geschrieben: „Tilo Jung scheint den Krautreportern massiv zu schaden. Übrigens war das schon vor dem Start der Krautreporter so.“ Soll heißen: Man muss Jung und seine Formate nicht mögen (ich tue es auch nicht). Und wer, wie Felix Schwenzel, Jungs Arbeit nicht durch seine Abo-Gelder unterstützen will, hat dazu natürlich jedes Recht. Aber ein einziger, noch dazu privat abgesetzter Post ist ein bisschen dünn als Begründung dafür, einen Journalisten und seine Arbeit tagelang öffentlich zu diskreditieren.
Bezeichnend für die netztypische Hysterie zum einen und die Probleme, die auf die Krautreporter zukommen zum anderen, ist etwas anderes: Während also die Gemeinde ernsthaft darüber diskutiert, wie sexistisch der Privatmann Tilo Jung womöglich sein könnte, geht eine andere Geschichte fast unter: Bei den „Krautreportern“ schreibt ein Autor über Politik, der im Nebenberuf für das Bundespresseamt arbeitet. Chefredakteur Alexander von Streit hat das inzwischen ausführlich erklärt, was auf der einen Seite natürlich löblich, auf der anderen Seite auch erstaunlich naiv ist: „Unsere Einschätzung war, dass dies die journalistische Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt, solange beide Tätigkeiten thematisch getrennt bleiben.“ Jemand, der sich intensiv mit politischen Themen beschäftigt und auf der anderen Seite für das Bundespresseamt tätig ist, ist in seiner journalistischen Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt? Dass das mindestens problematisch ist, müsste eigentlich generell klar sein, zumal bei einem Portal, das immer wieder mit seiner Unabhängigkeit pocht und deshalb sogar auf die böse, böse Werbung verzichtet.
Und während also weiter darüber debattiert wird, ob man Tilo Jung nicht gleich noch alle Bürgerrechte aberkennen und ihn zwangshormonell behandeln sollte, schreibt ein Mitarbeiter des Bundespresseamtes also weiter über Politik bei den Krautreportern. Das kann man natürlich begründen und der Chefredakteur hat das auch getan. (Hinweis: Tatsächlich schreibt der betreffende Krautreporter ab sofort so lange nicht mehr für das Portal, solange er die Tätigkeit beim BPA ausübt. Mein Fehler, sorry.)
Trotzdem: Ob unsere Netzdebatten über die Zukunft des Journalismus auch nur halbwegs in die richtige Richtung gehen, frage ich mich nach den letzten Tagen mehr denn je.
Wahnsinn, was zu diesem Thema Beiträge geschrieben werden… ich spare mir die Zeit und Energie und arbeite lieber weiter an einer ergänzenden(!) Zukunft des Journalismus – „leider“ in gedruckter Form: https://www.startnext.com/shift-next
🙂
Daniel
Der Tilo sitzt derzeit nicht zerknischt und selbstreflektierent in einer Ecke, sondern bei seiner Süßen in Miami bei den Schönen und Reichen und lässt sich’s da sicher einigermaßen gut gehen.
Rückkehr rechtzeitig dann mit einem neuen Projekt – oh, Wunder.