Zum Einstieg heute mal eine Frage auch und ganz besonders an die Nicht-Fußballexperten unter Ihnen (also geschätzt an ungefähr zwei oder drei): Eine Mannschaft, die von den letzten 32 Pflichtspielen 28 gewonnen hat, die ihr letztes Pflichtspiel vor ziemlich genau zwei Jahren verloren hat, die in der Weltrangliste auf Platz 1 steht und bei den letzten vier großen Turnieren dreimal im Halbfinale und einmal im Endspiel stand – würden Sie der es zutrauen, dass sie Weltmeister werden kann? Ja? Echt jetzt?
Sie können sich ja noch kurz überlegen, ob sie diese überaus gewagte Prognose ernsthaft aufrecht erhalten wollen. Falls Sie zweifeln, ziehen Sie doch bitte einfach mal Deutschlands Sportjournalisten zu Rate. Die nämlich kommen heute bspw. in der FAS und im „Spiegel“ auf nahezu revolutionäre Ideen. „Kaum zu glauben, aber zum Greifen nah“, titelt beispielsweise die FAS heute. Der „Spiegel“ wiederum widmet dem Bundestrainer einen ganzen Titel und spricht von den „kühnen Strategien des Joachim Löw“. Die „Bild am Sonntag“ hat eh keinen Zweifel mehr: Jetzt werden wir auch Weltmeister.
Ja, das ist schon echt heftig: Der Weltranglisten-Erste könnte Weltmeister werden. Wenn das nicht „kaum zu glauben“ ist, was dann noch?
Das heißt, wenn man so mitliest, was Deutschlands Fußball-Schreiber in den letzten Jahren so alles geschrieben haben – man könnte meinen, Deutschland sei ein Fußball-Entwicklungsland und Jogi Löw in Wirklichkeit die Wiedergeburt von Erich Ribbeck. Löw, der nie ein großes Turnier gewinnen wird, Löw, der im entscheidenden Moment alles vercoacht, Löw, der immer nur die Schönspieler einsetzt, anstatt ein Spiel auch mal ganz dreckig mit den deutschen Tugenden (die bestehen in erster Linie darin, ein Spiel dreckig zu gewinnen) gewinnen zu lassen.
Deutschlands Fachorgan Nummer eins, die „Bild“, ist da übrigens auch immer ganz vorne dabei. Was irgendwie fast verständlich ist: Der smarte Jogi, der Taktikfuchs, der Schöngeist, das passt vermutlich nicht ganz in das Bild, das „Bild“ gerne von einem deutschen Bundestrainer hätte. Die Volkstümlichkeit fehlt Löw zur Gänze und für markige Sprüche oder Wutreden oder kaiserliche Ja, gut-Dampfplaudereien ist er auch nicht zu haben. Weswegen es kein Wunder ist, dass „Bild“ kaum eine Gelegenheit auslässt, ihn anzuzählen: Wann muss Löw gehen? Diese Frage beschäftigt das Blatt schon eine ganze Zeit, zuletzt letzte Woche. Für „Bild“ war klar: Packen wir das Viertelfinale nicht, kann er sofort seine Sachen packen, der Jogi. Halbfinale geht gerade noch so, Finale muss es eigentlich dann schon sein.
Und die ganzen „Jogi, so werden wir nie Weltmeister“-Schlagzeilen, die kann man eh nicht mehr zählen.
Aber es ist ja keineswegs nur die „Bild“. Keine große Sportredaktion im Land, die vor dem Turnier Deutschland ernsthaft zum Titelfavoriten ausgerufen hätte (im Gegensatz übrigens zu vielen Kollegen im Ausland). Als sich Marco Reus vor dem Turnier verletzte, wurde mindestens der sofortige Untergang postuliert, dabei hatte Löw doch schon vor vier Jahren gezeigt, dass er clever genug ist, solche Ausfälle zu kompensieren. Oder hat nach Südafrika nochmal irgendjemand ernsthaft nach Michael Ballack gerufen (außer der „Bild“ natürlich)?
Jetzt also Halbfinale – und die Erkenntnis: Wer im Halbfinale steht, könnte theoretisch ja auch Weltmeister werden. „Kaum zu glauben“, titelt die FAS, man müsse Löw auf Knien danken für das, was er für den deutschen Fußball getan habe, verpasst ihm der „Spiegel“ sogar eine Komplett-Rehabilitation.
Und Jogi? Bleibt cool wie immer. Wenn im Halbfinale Schluss ist, hat er es als einziger deutscher Trainer der Geschichte dennoch geschafft, seine Mannschaft in allen von ihm gecoachten Turnieren unter die letzten vier zu bringen. Auch wenn man auf die Forderungen nach seinem Rückzug warten kann, schließlich hat er dann schon wieder kein Turnier gewonnen. Für schnelle Wendungen ist Deutschlands Fußball-Journaille immer zu haben.
Oder, wie man es auch sagen könnte: