Es sind gerade goldene Zeiten für Nachrichten-Journalisten. Und für Menschen, die sich selbst als News-Junkies bezeichnen, obwohl dieser Begriff alleine schon verräterisch ist. In Asien sucht man nach einem mysteriös verschwundenen Flugzeug, in der Ukraine eine Lösung für einen schwelenden Konflikt und in München nach ein paar verschwundenen Steuermillionen und einem Urteil über Uli Hoeneß.
Und natürlich ist das wieder die hohe Zeit für Newsticker und Live-Blogs, für Tweets und alles andere, was inzwischen unter dem schönen Begriff „Echtzeit-Journalismus“ zusammengefasst wird. Das Dumme daran ist nur: An diesem Begriff stimmt nur der erste Teil. Mit Journalismus und mit Information haben die Fetzen, die man den ganzen Tag auf den großen deutschen Nachrichtenseiten so hingeworfen bekommt, nicht mehr sehr viel zu tun. Um genauer zu sein: eigentlich nichts.
Das wäre womöglich gar nicht so schlimm, wenn es nicht genau diese Online-Medien wären, die damit eine andere, zunehmend unschönere Seite im Netz befördern: die Neigung zu (vor)schnellem Urteil, ohne irgendetwas wirklich zu wissen, geschweige denn, es beurteilen zu können. Der fatale Hang zu dem, was inzwischen im allgemeinen Sprachgebrauch beschönigend Shitstorm genannt wird. Dabei handelt es sich dabei in den meisten Fällen nicht mehr um ernsthafte Debatten, sondern um das, was der Begriff impliziert.
Was soll auch rauskommen außer Shitstorms und vorschnelle Urteile, wenn beispielsweise „Spiegel Online“ die User dazu auffordert, etwas zu tun, was noch nicht mal ein Gericht kann? Nach eineinhalb Prozesstagen nämlich stellt „Spiegel Online“ ein Voting zur Debatte, das mit Journalismus nichts und stattdessen sehr viel mit wildem Spekulieren ohne jegliche Grundlage zu tun hat:
Gute Frage – an alle Küchenpsychologen und Schlaumeier, von denen sich zum Stand dieses Screenshots 8398 sicher waren: Logisch, Hoeneß wollte alles nur verschleiern. Wenn vox populi dann abgestimmt hat und angesichts der suggerierten simplen Lösungen auch nur simple Antworten rauskommen können, ist die Basis gelegt für den nächsten Shitstorm, für die nächste Empörungswelle, die in den unendlichen digitalen Weiten exakt so lange anhält, bis der nächste Aufreger kommt. Mit ein bisschen Glück also: ein paar Stunden.
Auf welcher Grundlage man diese komplexe Frage nach den Hoeneß-Motiven beantworten soll, erklärt „Spiegel Online“ dann mal lieber nicht. Es ist ja auch „mühselig“, all diesen schwierigen Details zu folgen. Und mal ehrlich, soll man sich jetzt wirklich durch 70.000 Seiten Material arbeiten, die eine Schweizer Bank zur Verfügung gestellt hat, wenn es doch auch viel einfacher geht und wenn man mit einem Voting schneller zu einem Urteil kommen kann? Da ist es wesentlich amüsanter, wenn man unmittelbar nach der Feststellung, wie mühselig das alles ist, einen Tweet zitieren kann, wonach ein Zuschauer Ärger mit der Polizei bekommen hat und vermutlich seinen Ausweis abgeben muss.
Ansonsten lässt sich das, was dort (und nicht nur dort) getickert und gebloggt wird, mit einem Satz zusammenfassen: Nichts genaues weiß man nicht. Wie auch, wenn der Prozess eineinhalb Tage alt ist, ständig neue Informationen und Sachverhalte auftauchen und man auch als Laie schon seit dem ersten Tag ahnt, dass es mit den ursprünglich angesetzten vier Prozesstagen wohl nicht getan sein wird? Wie auch, wenn wir plötzlich über das rund Sechsfache der ursprünglich zu verhandelnden Betrags reden und über eine ganze Menge zusätzlicher Sachverhalte zudem? Das aber ist in der Systematik des Echtzeit-Journalismus nicht vorgesehen, weswegen der Ticker irgendwann mal beginnt, windelweich zu werden. Auszüge gefällig?
- Es wird vermutlich nicht zu einer Urteilsverkündung am Donnerstag kommen.
- Es sei durchaus davon auszugehen, dass weitere Termine erforderlich sein werden.
- Rupert Stadler, Audi-Chef und Stellvertreter von Hoeneß im Bayern-Aufsichtsrat, will sich weiterhin nicht zur Zukunft von Hoeneß äußern.
- Dass die kürzlich von Hoeneß überreichten Daten schon mehr als ein Jahr alt sind, war offenbar nicht ohne weiteres ersichtlich.
(Fettungen von mir)
Merken Sie was? Vermutlich muss man davon ausgehen, dass sich jemand offenbar zur Zukunft nicht äußern will. Das ist die gefühlte Quintessenz des sogenannten Echtzeit-Journalismus von heute nachmittag. Nichts genaues wissen, aber das sehr wortreich in rasanter Taktung weitergeben und als Interaktions-Attrappe die User fragen: Und, was sagt ihr dazu?
Nein, ich bin kein Kultur-Pessimist. Trotzdem glaube ich, dass eine solche Form des „Journalismus“ Menschen weder besser an den Geschehnissen beteiligt, noch dass dadurch irgendjemand klüger wird. Im Gegenteil, das ist eine Form von gefährlicher Information: Irgendjemand, der heute den ganzen Tag an diesem Ticker hing, ging mit Sicherheit mit dem Gefühl nach Hause, jetzt mehr zu wissen als heute vormittag. Dabei weiß er nach einem solchen Rumgetickere nichts, außer, dass heute der Hoeneß-Prozesss fortgesetzt wurde.
***
Man mag diese eigenartige Form von „Information“ für ein Phänomen des Echtzeit-Journalismus halten. Tatsächlich sind diese bemühten Ticker und Liveblogs nichts anderes als die Quintessenz des (verkehrten) Wegs, auf den sich der Online-Journalismus in Deutschland begeben hat. Ein Weg, der hauptsächlich und immer noch wie seit vielen Jahren auf die vermeintlichen Stärken des Netzes setzt. Auf die Schnelligkeit, auf die Möglichkeit, vor jedem und allem anderen irgendwas zu melden. Ich fürchte, in vielen Redaktionen geht man immer noch davon aus, dass Nutzer im Netz nicht in der Lage und nicht willens sind, sich auf längere, erklärende und anspruchsvolle Stücke einzulassen. Das würde zwar diametral dem Erfolg beispielsweise von dem generell immer sehr ausgeruhten „Zeit Online“ widersprechen, aber offensichtlich ist das common sense bei vielen großen Nachrichtenseiten: Hauptsache schnell, erklären kann man dann ja immer noch genug. Dabei begibt man sich lediglich in ein nicht zu gewinnendes Rattenrennen, in dem die Klickzahlen zählen und eine Marke wie der „Spiegel“ sich sukzessive selbst ruiniert (bei „Focus Online“, wo heute zweitweise drei Ticker gleichzeitig liefen, existiert wenigstens kein Name mehr, den man noch ruinieren könnte).
Mich erstaunt immer wieder diese Mutlosigkeit gerade in digitalen Redaktionen. Diese Mutlosigkeit, mit der darauf verwiesen wird, dass der User es so wolle und dass man sich als potentieller Kostenverursacher auch irgendwie rechtfertigen bzw. finanzieren müsse. Das mag vordergründig nachvollziehbar sein, aber diese Argumentation führt in die Sackgasse. Weil inzwischen deutsche Nachrichtenseiten ziemlich oft klassische me-too-Angebote sind, die weitgehend das Gleiche machen und um dieselbe Klientel buhlen. Dabei gibt es einen Markt für anspruchsvollen, ordentlichen Online-Journalismus. Den machen dann dummerweise immer nur die, auf die wir dann auf irgendwelchen Panels verweisen, weil sie so vorbildlich sind.
***
Letzter Gedanke am Rande noch: Beim „Tagesanzeiger“ in Zürich habe ich heute dieses Stück über Nordkorea gefunden. Kann mir jemand aus dem Stand drei deutsche Redaktionen nennen, die es in dieser Form und in diesem Umfang und derart prominent platziert ebenfalls gebracht hätten?
„Dabei gibt es einen Markt für anspruchsvollen, ordentlichen Online-Journalismus.“ Gut zu wissen, leider ist die These nicht belegt. Momentan zählen durchwegs Klicks und damit vermarktete Reichweite – und damit eben oft der Echtzeitjournalismus. Die supidupi-Reportagen mit Tiefgang freuen uns Journalisten natürlich mehr – nur zahlt sie uns (noch) niemand. Leider.
Nicht belegt? Und was ist dann mit Zeit Online, mit Abstrichen mit süddeutsche.de?