Es gibt eine neue App. Sie heißt „Der Abend“ und bietet einen Überblick über den beinahe zurückliegenden Tag. Sie ist personalisierter, interaktiv, lern- und merkfähig, lässt sich insbesondere auf mobilen Geräten gut nutzen, verzichtet demnach völlig auf Papier und ist im Falle der Fälle auch so konfigurierbar, dass sie dem Design verschiedener Redaktionen angepasst werden kann. Kurz gesagt: So soll sie sein, die Zeitung der Zukunft, sofern man sich darauf einlässt, die Zeitung endlich mal davon zu entkoppeln, immer gedruckt sein zu müssen.
Kommt Ihnen nicht übermäßig spannend, innovativ und aufregend vor? Wären Sie auch selbst drauf gekommen, wenn man Ihnen mal eine Viertelstunde Zeit gegeben hätte? Mag alles sein. Trotzdem ist dieses Ergebnis, das der „Spiegel“ und der Zeitungsdebatten-Mastermind Cordt Schnibben jetzt als Resultat von #tag2020 vorgelegt haben, nicht einfach damit abzutun, dass es eher unspektakulär ist. Im Gegenteil. Denn erstens ist vieles sehr richtig und überlegenswert daran, zum anderen wirft es eine Frage auf, die man sich schon länger stellen müsste: Wenn denn alles so einfach und banal ist, wie es von Print-Seite gerne heißt (der unvermeidliche FAZ-Hanfeld und seine 2 Cent Häme stehen bereits online), warum gibt es ein solches Produkt nicht schon lange? Und wieso halten immer noch viele Verlage die Transkription einer Zeitung in ein e-Paper für die Krönung des digitalen Journalismus?
Darüber soll an dieser Stelle nicht spekuliert werden. Nicht mal, obwohl mir spontan etliche Gründe einfielen. Eines ist dennoch frappierend: wie sehr dieses Beharrungsvermögen auf Printseite immer noch ausgeprägt ist. Cordt Schnibben schildert in seiner Zusammenfassung u.a. die Reaktionen auf die Zeitungsdebatte – und wie ihm eines Morgens fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen ist, weil jemand ernsthaft behauptete, er habe ein von Matthias Döpfner geordertes, „Bild“-ähliches Konzept entworfen. Aber auch die Reaktionen aus anderen Blättern waren von beeindruckender Engstirnigkeit: In „FAS“, „Zeit“ und anderen wurden die bösen Zeitungshasser für alles verantwortlich gemacht, in der FAZ verstieg sich Stefan Schulz zu der selbst für seine Verhältnisse erstaunliche Behauptung, der Anspruch der Zeitung sei schließlich „Wahrheit“. Seinem Herausgeber Frank Schirrmacher fiel nichts anderes ein, als ernsthaft darauf zu verweisen, es dämmere gerade immer mehr Menschen, dass die Zeitung nicht von der NSA überwacht werden könne. Und auch Hanfelds neuer Text kommt nicht ohne den Hinweis aus, in der „Spiegel“-Debatte seien „Online-Onkels von der Leine“ gelassen worden, die dann ihren „Zeitungshass“ ausgelebt hätten.
Schon klar, so einfach kann man sich das natürlich machen. Alles ist gut, nur die bösen Online-Onkelz reden alles kaputt. Weil es ihnen Spaß macht, es ihr Hobby ist und dem eigenen Business schließlich auch noch gut tut. Das ist eine Wagenburg-Mentalität, die bisher noch jedem Untergang vorausgegangen ist, wobei ich beim Stichwort Untergang irgendwie an den gleichnamigen Film denken muss und an die Szene, in der der Führer irgendwelche Armeen herbeizitiert, die schon lange nicht mehr existieren. Eine solche Mentalität verhindert allerdings auch die Öffnung nach außen und die Möglichkeit, auf solche Dinge wie das Konzept „Der Abend“ zu kommen. Bevor jetzt wieder irgendein Hanfeld loskräht: Das Konzept wurde nicht von den bösen Onkelz kreiert, sondern basiert weitgehend auf dem, was User eingebracht haben. Hätte man übrigens ebenfalls selber machen können, man müsste nur mal von seinem hohen Journalisten-Roß runterkommen und aufhören zu glauben, man wisse schon, was für (Medien-)Land und Leute gut ist.
Haben sie aber nicht, sind sie aber nicht – und ich würde die Prognose wagen: Viel wird sich auch weiterhin nicht ändern, schon alleine, weil man sich ja jetzt erst mal dem Aufziehen von Paywalls widmen muss. Andersrum würde vielleicht eher ein Schuh heraus. Journalismus neu denken, den Gegebenheiten eines digitalen Zeitalters anpassen – und dann Produkte entwickeln, die man sich auch bezahlen lassen kann. Aber, schon klar: Solange man böse Internet-Onkelz und diebische Geizhals-Leser als Feindbild ausmacht, muss man sich über die eigene Einfallslosigkeit kaum Gedanken machen.
Nachtrag: Ein anderer böser Onkel, Thomas Knüwer, hat sich ebenfalls zum Thema geäußert. Er hält die Abend-App für ziemlich konfus und nimmt die Debatte letztlich als Beleg dafür, dass sich das bedruckte Papier dem Ende nähert. Lesen kann man das hier – aber bitte nicht gleich wieder ´ne Verschwörung wittern, liebe analoge Verschwörungstheoretiker.
Beim Hanfeld-Text auf faz.net ist ja nicht nur von „Zeitungshassern“ die Rede. Er schreibt „Pressehasser“. Wer also die Zukunft der Printmedien online sucht, wird nicht nur zum Feind der Zeitung, sondern sogar zum Feind der Presse an sich erklärt. Das hat schon paranoide Züge.
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