Man muss René Pfister ja dann doch ein bisschen dankbar sein. Vielleicht war ich der einzig verbliebene Mensch auf dem Planeten, dem das bisher nicht klar war, aber es wird dann doch ein bisschen deutlicher, wie viel der Journalismus – beispielsweise, aber eben nicht nur – mit Kolportage statt Reportage zu tun hat. Wie sehr dort ein Schein erzeugt wird, der mit dem Sein nur eingeschränkt zu tun hat. In der neuesten Ausgabe beispielsweise geht es um einen Mahner der japanischen Atomindustrie, der just am Tag, als Fukushima passierte, beim Tepco-Konzern mal wieder etwas zu den Gefahren durch Tsunamis sagte. Der „Spiegel“ nimmt in einem sehr spiegeligen Einstieg den Leser mit in die Wohnung des Mahners, der heute dem Anlass angemessen „die graue Strickjacke“ zuhause lässt und sich für den „guten Anzug“ entscheidet. Das mag alles korrekt und auch stilistisch in Ordnung sein, es liest sich aber komisch, wenn man weiß (oder davon ausgehen muss), dass der Autor diese ganzen hübschen Details auch nur vom Hörensagen her kennt oder ein bisschen gegoogelt hat. Der ganze „Spiegel“ und einige andere Blätter lesen sich ein bisschen anders. Man fühlt sich an Madame Alice Schwarzer erinnert, die beim Kachelmann-Prozess berichtete, ohne am fraglichen Tag überhaupt in Mannheim anwesend gewesen zu sein. Ihre damalige sinngemäße Begründung, dazu müsse man ja nicht direkt vor Ort anwesend sein, fand ich realsatirisch. Und beim „Spiegel“ soll sowas plötzlich hohe und große Kunst sein? Dinge „kalt“ zu schreiben ist eine ultima ratio, wenn sie zum journalistischen Standard wird, dann ist irgendwas schief gelaufen.
Irgendwie steht es momentan eh nicht so wirklich gut um dem „Spiegel“ und um einige andere auch nicht (nein, damit ist nicht der „Focus“ gemeint, um den es noch nie richtig gut stand). Stefan Niggemeier hat ziemlich treffend die aktuelle Titelgeschichte des „Spiegel“ demontiert, wobei mir ganz generell aufgefallen ist, dass es nicht nur etliche stilistische und journalistische Unebenheiten gibt, über die man stolpern kann. Momentan störend finde ich die zunemehmenden Plaudereien, die der „Spiegel“ als Titelgeschichte bezeichnet. Der Titel diese Woche über das Thema „Männer, Macht und irgendwie Sex“ war derart informationsbefreit, dass es erstaunlich ist, wie man daraus ein ganzes Titelstück machen kann. Die Geschichte über die royale Hochzeit in London vor wenigen Wochen: eine nette Glosse, nur dass die Glosse nicht nach 80 Zeilen endete, sondern sich über etliche Seiten zog. Erstaunlich, das.
Aber vielleicht hat das ja nicht nur etwas mit dem „Spiegel“ und irgendwelchen Interna zu tun und damit, dass der „Spiegel“ eben seit hundert Jahren der „Spiegel“ ist und schon immer etwas anders war. Sondern damit, dass es auch Kollateralschäden einer zunehmenden Schnelllebigkeit und Klick- und Quotenhörigkeit gibt. Die Daueraufgeregtheiten in den Redaktionen führen jedenfalls speziell in diesem Jahr, das bisher zugegebenermaßen ziemlich nachrichtenintensiv war, schnell dazu, dass sich eine Geschichte in die andere reinüberschlägt. Und dazu, dass umgekehrt in der Daueraufgeregtheit und unter dem wachsenden Druck, die Leute ja nicht zu langweilen, sich die Relationen ein bisschen verschieben. Dreifache Kernschmelze in Fukushima? Nimmt man mal so mit, weil man im Journalistensprech sagen würde: Hatten wir schon. Hatten wir oft genug. Will keiner mehr lesen. Dagegen: Ein neuer, unheimlicher, gruseliger Killerkeim? Dem bereits eine 83jährige Frau zum Opfer gefallen ist? Endlich was neues, nachdem Rinderwahn, Schweinegrippe, Vogelgrippe und all die anderen unheimlichen Epidemien durch sind und nicht mal mehr Berufshysterikern Angst machen. Killerkeim im Blattsalat, wie schön!
Oder eine Aschewolke, die für einen halben Tag ein paar Flüge ausfallen lässt? Kate, William, Michelle Obamas neues Kleid? Knut ist tot? Alles Themen, die in den letzten Wochen zuverlässig abgearbeitet wurden, während Fukushima es im Regelfall nicht mehr sehr weit schafft in Zeiten der Daueraufgeregtheit und des Klickwahns, nicht mal mehr eine dreifache Kernschmelze. Nicht (nur) in „Bild“ oder „Express“, sondern bei vielen anderen.
Aber ja, natürlich könnte man es sich jetzt eher einfach machen. Auf das Publikum, die lieben Leser verweisen, die schlichtweg eine immer kürzere Aufmerksamkeitsspanne haben, immer weniger bereit sind, sich für längere Zeiträume auch auf komplexe Themen einzulassen. Aber müsste man auf der anderen Seite nicht festhalten, dass wir gerade dabei sind, Junkies mit immer mehr und immer schnellerem Stoff zu bedienen – und uns dann beschweren, dass diese Junkies immer schneller immer noch mehr davon wollen?
Na, wer schreibt die gut (und selbst) recherchierten Hintergrundgeschichten, die man gerne liest? Wer bezahlt die Schreiber dieser Geschichten und den notwendigen Aufwand angemessen?
Qualitätsjournalismus könnte ja irgendwann (wieder) bedeuten, dass es genau diese Texte gibt; ihre – zahlenden – Abnehmer fänden sie wohl. Wenn die Verlage mal halblang machten. Wenn man sich denn auf die Kriterien für journalistische Qualität abseits des super-ultra-hyper-sensationellen Aktuallen einigen könnte. Wenn Redaktionen auf- statt abgebaut würden. Wenn Online kein Stiefkind mehr wäre. Wenn man als Freie/r ordentlich leben könnte, ohne ein ‚Star‘ zu sein. Und, und, und …
@Vera: D´accord, aber was meinst du mit dem letzten Satz??
Ich glaube, damit ist gemeint, dass man als durchschnittliche/r Freie/r nicht ordentlich davon leben kann. Dass das eben nur geht, wenn man ein „Star“ ist…
Immer mehr Menschen wissen immer weniger, nichts Wissen macht Machtlos, aber Macht ist gefährlich, Missbrauch erst recht, also paßt man sich dem Bequemen Alltag an und nimmt alles mit was man sich durch das Gesehene und Gehörte ins Gehirn schieben kann, Arme leere Leichtigkeit, komisch, daß man damit untergehen kann.
Lieber Jak,
im Prinzip d’accord. Aber Spiegel „seit hundert Jahren“? Es gibt bestimmt Menschen, die das für bare Münze nehmen.