Südafrika, 2010 (15): Soweto

Wenn man bisher schon verstörende Bilder vor Augen hatte – dann ist ein Nachmittag in Soweto so ziemlich genau das Richtige, um sich endgültig durcheinander bringen zu lassen.

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Soweto an einem Sonntagnachmittag im Juni. Auf dem Weg in die „South Western Town“ (so hieß Soweto ursprünglich mit vollem Namen, Soweto ist eine Abkürzung dessen) hat man die Bilder vor Augen, die man als Europäer ohne Afrikaerfahrung halt so vor sich hat. Es ist ein etwas diffuses Bild einer kleinen, engen, zusammengepferchten etwas größeren Wohnsiedlung vor den Toren einer Millionenstadt. Ein Ort, an dem Menschen leben, die in die Stadt wollen, es dorthin aber (noch) nicht geschafft haben. Der zwar, um im Berliner Duktus zu bleiben, arm aber sexy ist. Man stellt sich arme Menschen in sehr einfachen Verhältnissen vor, die aber trotzdem in einer gewissen Würde leben. Man stellt sich das alles also so vor, wie es sich nur ahnungslose und ignorante Mitteleuropäer vorstellen können, die von allem ein profundes Halbwissen haben (damit meine ich letztendlich: mich selbst).

Und weil es eben nur so ein profundes Halbwissen ist, ist man in Soweto noch nicht mal richtig angekommen, um festzustellen, dass man eigentlich gar nichts weiß. Soweto ist keineswegs der kleine Vorort der Millionenstadt Johannesburg. In Soweto leben nach offiziellen Angaben vier Millionen Menschen, inoffizielle Schätzungen gehen sogar von sechs Millionen aus. Der Vorort von Johannesburg hat also mehr Einwohner als Berlin, registriert der blasshäutige Mitteleuropäer ganz nebenbei – und hat somit einen Grund mehr, sein blödes Halbwissen in die Ecke zu stellen und sich nur auf das zu verlassen, was man selber sieht (für Journalisten ist das generell keine so schlechte Idee).

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Die Millionenstadt Soweto lässt sich also keineswegs mal eben im Spaziergang erkunden und bewerten; man käme ja auch nicht auf die absonderliche Idee, bei einer USA-Reise einen Nachmittag für New York einzuplanen. Und ebenso wenig würde man auf die Idee kommen, New York auf einen einziges Bild zu reduzieren. In New York gibt es unfassbaren Reichtum und abstoßende Protzerei, es gibt innerhalb eines Viertels Reichtum, Armut und Gewalt nebeneinander (Harlem) und es gibt klassische Mittelschichtsbezirke (Staten Island), die in etwa so charismatisch und gefährlich sind wie Bochum. Das ist in Soweto auch nicht sehr viel anders. Wenn man beispielsweise die Museen der Stadt besucht oder das Nelson-Mandela-Haus, dann ist das wie in etliche anderen Museumsgegenden der Welt auch. Busse fahren vor, rund um die Parkplätze stehen Händler mit Souvenir-Scheußlichkeiten, die alles Mögliche sind, nur nicht handgemacht. Das Nelson-Mandela-Haus heißt so, weil dort der Nationalheilige Nelson Mandela mit seiner Familie mal gewohnt hat. Dort wird man schnell durchgeschleust, es gibt nichts wirklich Wichtiges zu sehen und in WM-Tagen ist das sowieso ein eher nerviges Erlebnis. Da stehen dann reihenweise Fußballfans in Trikots Schlange, lassen sich strahlend vor dem Schriftzug „Mandela House“ ablichten und eigentlich ist das Einzige, was noch fehlt, dass sie mit den Vuvuzelas tröten. Kein Ort also, an dem man gerne bleibt. Und ist es nicht erstaunlich, dass die typischen Tourismus-Rituale sofort an allen Ecken der Welt Einzug halten, wenn man sie nur lässt? Selbst in Soweto/South Africa gibt es nach dem Besuch in Museum und Mandela-Haus im benachbarten Schnellimbiss Pommes und Bier. Dass es keine Currywurst gibt, ist auch schon alles, obwohl: Vielleicht habe ich einfach nur nicht gründlich genug geschaut.

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Man kann dann noch ein wenig durch Soweto mit dem Bus fahren, man landet irgendwann zum Essen im „Soweto Hotel“ und wenn man schon mal in den USA in einem guten Hotel beim Essen war, dann weiß man wie man sich das „Soweto Hotel“ vorzustellen hat. Am Nebentisch prosten sich Menschen mit Champagner zu, in der Bar spielen zwei mittelalte Südafrikaner jenen gelackten Bar-Blues-Jazz, den man in jedem gehobenen Mittelklassehotel dieser Welt bis zum Erbrechen anhören muss, mit der Ausnahme, dass es hier denn auch „Pata Pata“ von der anderen Nationalheiligen Miriam Makeba sein muss. „Pata Pata“ klingt in diesen Bar-Blues-Jazz-Variationen aber auch nicht sehr viel anders als, sagen wir, „New York New York“. Dieser latente Hang zur Gleichmacherei ist also auch in Soweto angekommen und wenn man seinen Tag so verbringt wie ich gestern, man würde wahrscheinlich nach Hause kommen und sagen: Och, so schlimm ist dieses Soweto, von dem man immer so viel hört, gar nicht. Zumal außen rum ein paar Obst- und andere Stände von Farbigen drapiert sind, die wenigstens so ein bisschen abgerissen aussehen, so dass der aufgeklärte Tourist von heute zuhause sagen kann: Naja, so ein bisschen arm sind die schon noch da. Aber der Schampus in der Bar war wirklich prima.

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Südafrika wäre aber nicht Südafrika, wenn sich dieser Eindruck, der sich gut gesättigt in einem Hotel aufdrängt, nicht ganz schnell radikal verändern würde…

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Soweto, an einem Nachmittag im Juni. Unser Busfahrer will uns etwas Gutes tun, wirft das wunderbare „Shosholoza“ in den CD-Player und weil wir uns inzwischen ja als halbe Afrikaner fühlen und das Lebensgefühl hier ziemlich inhaliert haben, dauert es nur ein paar Sekunden, bis die Truppe im Minibus mitsingt und ziemlich fröhlich wird. Wir sind auf dem Weg nach Kliptown, einem Viertel von Soweto, von dem es heißt, dass dort die wirkliche Armut beheimatet sei. Das Wort „Slum“ nimmt niemand vor uns in den Mund und auf dem Weg dorthin bekommen wir immer noch den Eindruck vermittelt, als sei das eine originelle Form der südafrikanischen Folklore. Man nennt das hier stattdessen „Shanty Towns“ und das klingt dann doch deutlich harmloser als – Slum.

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Ich war noch nie in meinem Leben in einem Slum. Ich bin, wie erwähnt, ein ziemlich verwöhntes mitteleuropäisches Mittelklasse-Wohlstand-Irgendwas. Meine größten Probleme sind meistens der Ausfall des Internets oder dass sich der ICE von München nach sonstwohin um 10 Minuten verspätet. Meine Kinder haben ihre iPods und das ganze Zeug und meine große Tochter rief mich kurz vor dem Abflug nach Johannesburg an, um mir ihre T-Shirt-Wünsche aus Südafrika durchzugeben, aber bitte nur in bestimmten Farben und in bestimmten Motiven. Aber natürlich weiß ich alles über Slums, ich war schließlich auf einem Gymnasium, von dem es heißt, es sei ein besonders gutes gewesen. Und ich habe gelesen, geschaut, gehört. Ich weiß alles über Slums, Elend und Armut.

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Einen feuchten Dreck weiß ich. Gar nichts. Der erste Blick aus dem Busfenster auf die Landschaft aus Wellblechhütten und Holzverschlägen lässt nichts Gutes ahnen. Man dürfte Vieh bei uns nicht so halten, weil es gegen irggendwelche präzisen Viehhaltungsvorschriften verstoßen würde. Dreck und Müll liegen an den Straßenrändern, mittendrin fließen kleine Bäche aus Wasser, von dem man lieber nicht wissen möchte, was da sonst noch drin ist. Der Tag ist sonnig, das ja, aber der wehleidige Mitteleuropäer hat ja in den letzten Tagen schon mehrfach über die Unverschämtheit des Hotels geschrieben, dass die Zimmer nur so mittelwarm aufgeheizt sind und das Wasser aus den Duschen auch nicht immer so kommt, wie wir es gewohnt sind und es selbstverständlich gerne auch hier so hätten. Heizung? Duschen? Auf einmal kommt mir meine eigene Welt, in der ich lebe, so furchtbar weit weg und einigermaßen bizarr vor. Duschen in einem dunklen, dreckigen, Loch, in dem es weder fließendes Wasser noch eine funktionierende Heizung gibt? In dem Menschen zusehen müssen, in dem sie Nächte mit bis zu minus 10 Grad einigermaßen überstehen, eingerollt in alte schmutzige Decken und mehrere Lagen von Kleidung. In dem Kinder sehr schnell verlernen, Kinder zu sein, weil sie hier einen täglichen Überlebenskampf führen müssen. Und in dem dennoch die Menschen ihr weniges Hab und Gut mit armseligen Mitteln vor Diebstahl zu sichern versuchen. Die Umstände, unter denen diese Menschen leben müssen – man kommt schnell an einen Punkt, an dem Sprache versagt. Kann man es sich, wenn man einen Text liest, wirklich vorstellen, was es bedeutet, ohne fließendes Wasser, ohne Strom, ohne eigene Toiletten leben zu müssen?

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Auf der anderen Seite schießen dann Gedanken durch den Kopf, die vielleicht merkwürdig erscheinen, sich aber nicht verdrängen lassen. Was, wenn vielleicht unser mitteleuropäischer Lebensentwurf der Falsche ist? Wenn es vielleicht völlig absurd ist, immer noch mehr und noch mehr haben zu wollen, noch perfekter leben zu wollen? Mir ist klar, dass es den Menschen in Kliptown absonderlich vorkommen würde, würde man ihnen von diesen Gedanken erzählen. Und natürlich möchte ich auch in Zukunft nicht auf Toilette, Dusche und Strom verzichten wollen. Trotzdem bekommt man ein Gefühl dafür, wie nichtig die eigenen, täglich diskutierten Probleme sind angesichts dieser schwer zu beschreibenden Elends. Aber (noch so ein merkwürdiger Gedanke und noch ein paar der aus Europa mitgebrachten Klischees, die widerlegt werden) auf mich machen die Menschen in Kliptown dennoch einen zufriedeneren und glücklicheren Eindruck als beispielsweise Hartz4-Empfänger im Ruhrgebiet oder in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist vermutlich anmaßend, einen solchen Eindruck zu schildern. Aber da ist so etwas (Achtung, Pathos!) wie Würde, was diese Menschen ausstrahlen. Das würde ich einem Dosenbier trinkenden Ballonseide-Trainingsanzugsträger in vielen Fällen so nicht zugestehen wollen. Aber natürlich weiß ich auch, eben nur die Fassade in Kliptown gesehen zu haben. Und dass es vermutlich wieder den klischeebeladenen Vorstellungen des Mitteleuropäers entspricht zu denken, dass die Menschen nicht so unglücklich sind, wie wir denken, dass sie es sein müssten. Zumal dieser Satz auch noch die Gefahr in sich birgt, hoffnungslos missverstanden zu werden: Das soll keineswegs bedeuten, dass man diese Zustände so belassen könnte, weil sie ja gar nicht so schlimm sind.

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Man findet es dann angesichts der Eindrücke aus Kliptown auch irgendwie merkwürdig, andauernd – sowohl in Südafrika als auch in Deutschland – lesen und hören zu müssen, welchen Einfluss die WM auf das Land hat. Hier in Kliptown ist die WM Welten entfernt, obwohl Soccer City und der Stadtrand von Johannesburg in Sichtweite sind. Das muss man sich nochmal vor Augen führen: Wir sind hier keineswegs irgendwo in einer vergessenen südafrikanischen Provinz. Wir sind am Rand von Johannesburg, der Stadt, in der in knapp drei Wochen das WM-Finale zelebriert wird, bei dem sich die Reichen und Schönen der Welt die Hand geben. Es wird strahlende Bilder in die Welt geben, die Menschen werden vermutlich darüber reden, wie wunderbar sich dieses Südafrika doch entwickelt hat. Das Paralleluniversum im Schatten von „Soccer City“ wird niemand wahrnehmen. In Kliptown, einen Steinwurf vom Stadion entfernt, wird, wenn sie dort viel Glück haben, ein alter Fernseher stehen und sie werden zu Dutzenden um ihn rumstehen und versuchen, ein paar Bilder zu erhaschen. Und nach der WM wird die Karawane weiterziehen. Bringt die WM diesem Land irgendetwas, außer ein paar Wochen medialer Aufmerksamkeit? Nach einem Besuch im Slum hat man daran entschiedene Zweifel.

Und es ist, auch wenn sie offiziell abgeschafft ist, natürlich eine Form von Apartheid, was dort geschieht: Ich habe in dem Slum keinen einzigen Weißen gesehen.

Natürlich nicht, werden Sie jetzt vielleicht denken.

Natürlich??

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Um nochmal auf die wirklichen Gedanken der Gefühle der Menschen in Kliptown zurückzukommen: Ich kenne sie nicht, weil ich sie nicht gefragt habe. Nicht gefragt – als Journalist? Ehrlich gesagt: Ich habe mich nicht getraut. Nein, nicht weil ich Angst vor ihnen hatte. Im Gegenteil. Ich fühle mich an manchen U-Bahn-Stationen in Berlin oder München deutlich unwohler, weil dort, wenn man den falschen Leuten begegnet, eine latent deutlich aggressivere Stimmung in der Luft liegt als in diesem elenden Slum. (Gute Gelegenheit, wieder ein Klischee zu revidieren: In Kliptown laufen die Menschen weder mit aufgeklapptem Messer noch der Pistole im Anschlag rum. Und es stinkt auch nicht.) Getraut habe ich mich nicht, weil ich mir furchtbar übel vorkam. Man läuft dort wie durch einen Menschenzoo rum, fragt sich: Darf man diese Form von Elendstourismus überhaupt betreiben? Ist das nicht eine üble Form von Dekadenz, wenn man mit der teuren Nikon und der HD-Videokamera im Anschlag rumläuft, mit Lederjacke und Adidas-Turnschuhen? Und dann die Menschen dort besichtigt, für zehn Minuten sowas wie ein schlechtes Gewissen hat und dann wieder fährt, möglicherweise sogar noch ein kleines Almosen hinterlassend? Und soll ich die Leute dann womöglich noch fragen, wie sie sich denn gerade so fühlen? Ich habe mich, um ehrlich zu sein, schon lange nicht mehr so elend gefühlt wie in Kliptown. Wenn man aus der Welt des unvorstellbaren Luxus kommt und dann Menschen in unvorstellbarer Armut gegenübersteht, bekommt man eine Ahnung, dass man dieses Leben im Luxus auf deren Kosten führt. Und wenn man für wenige Augenblicke ehrlich zu sich selber ist, dann weiß man, dass es dafür keine Rechtfertigung gibt.

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Man weiß ja als Besucher eines solchen Ortes ohnehin nicht, wie man sich richtig verhält. Soll man den Menschen etwas geben? Wirkt gönnerhaft und ist zudem ungerecht. Wem gibt man etwas und wem nicht? Nichts geben? Großartig, da kommt man als Mensch mit (aus der Sicht der anderen) unglaublichen Reichtümern und hinterlässt nicht mal eine daran gemessene Kleinigkeit? Süßigkeiten für die Kinder, Geld, lieber etwas zu essen? Hält man dann die Kinder nicht zum Betteln an und verhindert somit indirekt, dass sich die Eltern einen ordentlichen Job suchen (auf den sie wahrscheinlich ohnehin keine echte Chance haben)? Und deprimiert man die Eltern nicht, wenn die Kinder auf einmal mit Geld heimkommen, dass die Eltern eben nicht haben? Und schließlich auch die Frage: Beruhigt man nicht einfach sein Gewissen (wobei das Gewissen noch schlechter wird, wenn man geht, ohne irgendwas getan zu haben)? Kurzum: Mir sind selten so viele ziemlich quälende Fragen durch den Kopf geschossen wie in Kliptown. Antworten darauf habe ich bis heute keine. Und um es schließlich noch aufzulösen: Ja, ich habe einigen Kindern dort etwas gegeben. Weil es Kinder waren und weil ich selber welche habe. Besser habe ich mich deswegen auch nicht gefühlt.

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Wer hier einmal gewesen ist, den lassen die Bilder nicht mehr los. (Mir ist übrigens klar, dass leider auch meine Bilder nicht das transportieren können, was sie eigentlich sollten. Im Gegenteil, schon beim Fotografieren habe ich festgestellt, dass sie durch das wunderbare weiche afrikanische Nachmittagslicht eine eigenartige Ästhetik bekommen. Das war nicht mal beabsichtigt, eigentlich wollte ich das Elend zeigen und nicht putzige Kinder in weicher Sonne.)

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Zurück im Bus.

Der Busfahrer lässt wieder „Shosholoza“ laufen.

Niemand singt mehr.

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