Wie sah Journalismus eigentlich im Jahr 1999 aus? Eine Frage, die aus heutiger Sicht so banal wie dennoch passend ist. Banal deswegen, weil man ja leicht dagegenhalten könnte, dass 1999 gerade mal zehn Jahre zurückliegt und im Regelfall in zehn Jahren zwar Evolutionen, aber keine Revolutionen passieren. Passend deswegen, weil die letzen zehn Jahre in der Medienbranche eben alles andere als normal waren. Wenn man so will – kann man von einer Revolution sprechen.
Rückblende: 1999 arbeitete ich beim ZDF, in erster Linie definierte sich der (Nachrichten-)Journalismus des Senders über die TV-Nachrichten der „Heute“-Sendungen. Es gab Internet, was damals alles andere als selbstverständlich war, aber das, was dort produziert wurde, fand weitgehend unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit statt. Nicht, weil das Angebot des ZDF nicht sehens- und lesenswert gewesen wäre, sondern weil vor zehn Jahren nicht einmal zehn Prozent der Deutschen privat online waren. Und die, die es waren, gingen mit knarzenden Modems ins Netz, die es mit Mühe und Not schafften, einfache HTML-Seiten aufzubauen, mit multimedialen Anwendungen, die wir heute kennen, aber hoffnungslos überfordert gewesen wären. Dabei hätte ausgerechnet das ZDF ja in Hülle und Fülle jenen Inhalt gehabt, den heute alle haben wollen: Videos. Gehabt hätte man sie also, allein: Ein Video mit fünf oder sechs MB zu laden, war 1999 für viele User eher eine Zumutung denn eine Freude. Ganz davon abgesehen, dass damals noch ein mittelgroßer Playerkrieg herrschte: Wer Videos anbieten wollte, musste sie sicherheitshalber in drei verschiedenen Formaten (für Windows, Real Media und Quicktime) bereit stellen.
Immerhin waren die sonstigen Verhältnisse klar: Fernsehen war Fernsehen und insofern die Macht im Haus. Fernsehleute dachten gar nicht daran, auch nur ein Händchen für online zu rühren, was auch daran gelegen haben könnte, dass den meisten TV-Menschen am Lerchenberg (und nicht nur dort) überhaupt nicht klar war, was das sein sollte – dieses Internet, von dem man neuerdings so viel hört. Eine Voraussetzung für crossmediales Arbeiten war also schon mal weggefallen: nämlich sowohl das grundlegende Verständnis als auch die Beherrschung des Handwerkszeugs, um überhaupt für ein zweites Medium arbeiten zu können (es wäre übrigens überaus unfair, dies nur den TV-Menschen anzulasten – die Onliner verstanden vom Fernsehen mindestens genauso wenig wie umgekehrt. Da war es dann schon mal ein mittleres Wunder, wenn sich TV-Leute freiwillig zu ein paar Schnuppertagen bei den Onlinern meldeten. Und wenn es tatsächlich mal eine kurze Einblendung oder gar einen Halbsatz in der Moderation des „heute-journal“ gab, dann konnte sich das ZDF damals quasi als crossmediale Avantgarde fühlen: Man mac hte etwas, für das es noch nicht einmal einen Namen gab. Und andere machten – gar nichts.
Natürlich ahnte 1999 auch niemand etwas davon, dass es einmal zu einer grundlegenden Selbstverständlichkeit werden könnte, über mehrere Kanäle zu kommunizieren. Dass es nicht einfach nur ein zusätzliches Angebot zur Informationsvertiefung an Zuschauer, Hörer und Leser sein könnte, im Internet noch etwas nachzuschlagen. Dass Journalismus später eine in jeder Hinsicht multimediale und hyperkonvergente Veranstaltung sein könnte, so wie es heute wahrgenommen wird – man wäre damals selbst in sehr digitalaffinen Kreisen für diese Idee eher verlacht worden. Und um ehrlich zu sein: Ich hielt schon damals, 1999, sehr vieles für möglich. Das, was 2009 Realität geworden ist, habe ich allerdings nicht einmal in meinen abwegigsten Gedanken erahnen können. Wenn man damals das Netz halbwegs beherrschte und etwas mehr auf die Reihe brachte als Mails zu schreiben, galt man damals schon als digitaler Wahnsinniger.
Vielleicht ist das die gravierendste Veränderung, die der Journalismus in den letzten zehn Jahren mitgemacht hat: Seine Grundhaltung ist inzwischen eine andere, oder sagen wir besser, sie sollte es sein. Wenn man sich nicht gerade verzweifelt an die Überreste und Relikte analoger Tage klammert, dann sollte es inzwischen selbstverständlich sein, Journalismus nicht einfach nur als eine künftig irgendwie mehrkanalige Veranstaltung zu begreifen, bei der es auch dazu gehört zu twittern oder ein Edelprofil bei Facebook zu pflegen. Im Journalismus von heute hat sich nicht nur die Zahl der Kanäle verändert bzw. vervielfacht, sondern auch die Art und Weise, wie wir als Journalisten und Medienmacher mit unserem Publikum kommunizieren. Um noch einmal auf das ZDF zurückzukommen: 1999 existierte dort eine Zuschauerredaktion, die routiniert Fragen beantwortete und Kritiker halbwegs ruhigstellte. Wäre man böse, man würde sagen: eine Kommunikationsattrappe. Heute kann sich kein ernst zu nehmendes Medium und kein Journalist mehr erlauben, nicht mehr zu kommunizieren. Verweigert jemand die Kommunikation, ist er bei denen, die künftig als Konsumenten darüber entscheiden, ob etwas Erfolg hat oder nicht, ziemlich schnell runter vom Radar. Das schadet uns übrigens ganz und gar nicht und man geht zudem aus Diskussionen mit Zuschauern und Lesern keineswegs dümmer raus. Aus der Kommunikation „one to many“, die früher für Journalismus charakteristisch war, ist inzwischen wie selbstverständlich der Gedanke geworden, viele würden mit vielen kommunizieren. Zu einer Kommunikation von vielen zu vielen gehören auch Journalisten, sie ganz besonders – und natürlich gehört dazu auch die Bereitschaft, diese Kommunikation so weit wie möglich in Echtzeit zu führen. Eine Reaktion auf einen Kommentar einen oder zwei Tage später, das sind im Netz Äonen und sie können im Zweifelsfall zum Desaster führen. Vielleicht gehört dazu aber auch zu beginnen, User (also: diese Leute, die man früher wahlweise Zuschauer oder Leser nannte) so ernst zu nehmen, dass man sie nicht mit Standardantworten aus einer „Zuschauerredaktion“ (alleine schon das Wort…!) abspeist. 1999 – war das einfach so. Auf den Gedanken, einem Zuschauer, einem Leser quasi auf Augenhöhe zu begegnen, wäre man damals nicht gekommen. Möglicherweise ist das eine der angenehmsten Errungenschaften aus den vergangenen zehn Jahren: aufzuhören zu glauben, Journalismus sei eine kommunikative Einbahnstraße.
Will man im Übrigen den Unterschied zwischen damals und heute am praktischen Beispiel sehen, nehme man nur die „Süddeutsche Zeitung“, die immer noch ein ebenso gutes wie leider auch tradiertes Blatt ist – und ihren Ableger „jetzt.de“ und ihrem Redaktionsleiter Dirk von Gehlen. Was dort passiert, ist jene Art Medium, die vermittelt, wie eine „Süddeutsche Zeitung“ einmal aussehen könnte, besser gesagt: wie sie aussehen sollte. Ein ähnlich gutes Beispiel dafür ist, wie „Neon“ mit Crossmedialität, der permanenten Kommunikation über verschiedene Plattform hinweg, umgeht. Und auch bei diesem Beispiel hat man eine Idee, wie der große Bruder „Stern“ sich verhalten müsste, wollte er zukunftsfähig werden.
Wenn man allerdings von der Zukunftsfähigkeit von Medien spricht, dann reicht es nicht, sich immer nur über die Ewiggestrigen unter den Verlegern oder den Senderchefs zu beschweren. Stattdessen muss man fairerweise auch ein paar Worte über uns Journalisten verlieren, unter denen sich ja auch nicht nur solche befinden, die vor lauter Innovationsfreude kaum mehr zu bremsen sind. Man muss – zugegeben – auch ihnen einräumen, dass sie in den vergangenen zehn Jahren von einer Entwicklung überrollt worden sind wie noch nie eine Journalistengeneration vor ihnen. Dennoch staunt man immer wieder, wie wenig ausgeprägt die Bereitschaft ist, sich auf essentiell Neues einzulassen. Ausgerechnet bei uns, einem Berufsstand, der schon von Amts wegen immer wieder dazu angehalten ist, Dinge zu hinterfragen und ggf. dafür einzutreten, dass das Alte dem Neuen Platz macht. Ausgerechnet wir also sind also ein wenig bockbeinig wenn es darum geht, uns klar zu machen, dass die Zeiten des bisherigen Journalismus vorbei sind; dass wir weder mit unserer bisherigen Geisteshaltung noch mit unserem (ja, so banal ist das manchmal) bisherigen Handwerk weiterkommen. Die Frage drängt sich übrigens angesichts der aktuellen Debatten auch auf: Ist das wirklich so schlimm, dass wir uns auf einmal auch mit neuem Handwerkszeug beschäftigen müssen? Ist das wirklich unzumutbar, sich mit den Funktionsweisen einer Kamera vertraut zu machen, sich anzusehen, wie ein Schnittprogramm funktioniert? Sehr viel mehr wird doch von einem crossmedial arbeitenden Generalisten gar nicht verlangt. Niemand erwartet, dass aus einem, der die letzten 20 Jahre in einer Zeitungsredaktion verbracht hat, plötzlich ein begnadeter Filmer wird. Dass er sich aber zumindest mit der Materie ein wenig auseinandersetzt, das zumindest darf man verlangen.
Bezeichnend übrigens exakt zu diesem Thema ist eine Studie, die von der Uni Leipzig durchgeführt worden ist. Speziell, wenn es um das momentan viel diskutierte Thema Video geht, klaffen das Wollen und das Können ganz erheblich auseinander. Kurz zusammengefasst: Der überwältigende Teil von Medienmachern hält Video für eine Darstellungsform, die in den kommenden Jahren massiv an Bedeutung gewinnen wird. Fragt man hingegen die gleichen Menschen nach ihrem eigenen (handwerklichen) Können, wird deutlich, dass die meisten wenig bis gar keine Erfahrung in professioneller Videobearbeitung mitbringen.
Was läge also näher als diesen erkennbaren Widerspruch aufzulösen und sich allmählich mal mit dem Thema zu beschäftigen? Vielleicht ist es zunächst ja nur ein zugegeben ungewohnter Gedanke. Dennoch noch etwas hat sich zwischen 1999 und 2009 maßgeblich verändert: 1999 glaubten wir, uns an vermeintlich gültige Regeln halten zu müssen. Journalismus war erstarrt, gefangen in sich selbst und seinen eisernen Regeln. Einer der meist genutzten Antwortphrasen, die es damals auf eine Frage nach einem „warum“ gab, war: Man macht das so. So ist das eben. Journalismus und Kreativität, gefangen in einem selbstreferentiellen Regelbuch, ganz so, als könne man Journalismus in gültige Lehrsätze packen wie die Mathematik. Die Idee,dass man jetzt, zehn Jahre später und mitten drin am Anfang eines digitalen Zeitalters, Journalismus selber mitbestimmen, kreativ mit- und weiterentwickeln kann, muss man ja nicht nur erst einmal haben. Sondern man muss auch den Mut und das Selbstbewusstsein mitnehmen, diese Ideen konsequent zu vertreten und möglicherweise auch die Gefahr des Scheiterns einzukalkulieren. Das ist nichts Schlimmes, nur ungewohnt. Wenn man sich dann aber vor Augen führt, dass es in den vergangenen zehn Jahren in der Medienbranche ungefähr niemanden gab, der sich nicht mindestens einmal mit einer Einschätzung grandios vertan hat, verliert der Gedanke, Dinge einfach mal auszuprobieren, eine ganze Menge von seinem Schrecken.
Besser als noch einmal eine Dekade lange Regeln zu befolgen, die vor langer Zeit mal andere für uns aufgestellt haben, ist das allemal.
Aha. Und weiter?
Demnächst bestimmt im ZDF Roland Koch den Nachrichteninhalt. Wir haben es wahrlich weit gebracht …
Das ist doch schon der perfekte Einführungsvortrag für die BLM/BLV-Tagung am 14.12. in München. 🙂
Ich hatte übrigens um 1998 herum mal Einblick in mehrere Ausdrucke von Telefonprotokollen der ZDF-Zuschauerredaktion und konnte danach etwas besser verstehen, warum so viele Anfragen mit Standardantworten abgespeist werden. Ein Quelle der Erheiterung – vor allem das Protokoll von einem Samstag abend mit vielen Forderungen „will sofort Thomas Gottschalk sprechen“ etc.
Aber heute finden Reaktionen vor allem im Netz statt und Redaktionen müssen zwingend gute Filter einsetzen, um auf die ja auch vorhandenen intelligenten und berechtigten Reaktionen von Nutzern angemessen zu reagieren. Doch ebenso sich wie viele Journalisten dagegen sträuben, sich mit neuer Technik und neuem Handwerk aueinanderzusetzen, widerstrebt ihnen auch eine Auseinandersetzung mit ihrem neuen Rollenverständnis. Nur Meldungskonfektionierer und Prediger von der Kanzel oder auch Kurator und Moderator von Nutzerbeiträgen? Viele wollen sich mit dieser Frage überhaupt nicht befassen.
wird deutlich, dass die meisten wenig bis gar keine Erfahrung in professioneller Videoerfahrung mitbringen.
<– Videobearbeitung, war sicher gemeint. 😉
Hab´s ausgebessert, danke!