Hans-Martin war ein eher unauffälliger durchschnittlicher Mensch. Bis Samstag abend. Bis er zu einer Hassfigur wurde, zu #hassmartin.
Man könnte sich ziemlich leicht darüber aufregen, was da passiert ist. Dass da einer im TV mit seinen eigenen Schwächen vorgeführt wurde und dass gleichzeitig eine Entrüstungs- und Hämemaschinerie im Netz angeworfen wurde, die an Schnelligkeit und Derbheit kaum zu übertreffen war. Aus Hans-Martin wurde in Minutenschnelle via Hashtag „Hassmartin“ und eigentlich amüsierte sich die Meute eher über den Mann, der da anscheinend in völliger Verkennung der Lage und seiner selbst sich zu einer öffentlichen Person machte, bei der einem nichts anderes übrig blieb als sie nicht zu mögen.
Also, arbeiten wir erst mal die kurzen Fakten ab: Hans-Martin ist das Abziehbild eines Menschen, der mit „gruselig“ noch freundlich umschrieben ist. Vorlaut, klugscheißerisch, uncharmant. Eine Figur, auf die man schnell Aggressionen und Häme projezieren kann. Man muss ja nicht gleich von „Hass“ reden, aber dass man ihn nicht mögen muss, ist erst mal unstreitbar.
Die Aufregung darüber allerdings, was jetzt mit dem armen Hans-Martin passiert, zeugt wahlweise von Heuchelei oder aber von Ahnungslosigkeit. Denn was da am Samstag bei Pro 7 ablief, war im Grunde nichts anderes als eine extrem rasante Zuspitzung dessen, was sowohl (privates) Fernsehen als auch Kommunikation im Netz ausmacht. Das Phänomen ist nicht neu, neu ist nur die Beinahe-Echtzeit-Geschwindigkeit, in der Netz und Fernsehen aufeinander zuliefen.
Privates Fernsehen lebt von seinen Charakteren, von gnadenloser Zuspitzung, von gut oder böse, schwarz oder weiß. Privates Fernsehen lebt nicht vom Lesen zwischen den Zeilen oder von Grautönen. Und insofern war es auch sicher kein Zufall, dass es ausgerechnet Hans-Martin war, der gestern als Gegner Raabs auserkoren wurde. Wenn man so will: weil er ein leichter Gegner war. Nicht, was die Spiele angeht, sondern die Dramaturgie der Show. Normalerweise gibt Raab wohlkalkuliert die Hackfresse, bei der sich alle freuen, wenn sie ordentlich poliert wird (oder der eine Boxerin das Nasenbein bricht). Diesmal war es umgekehrt und Hans-Martin der perfekte Kandidat, Raab im Hackfressen-Ranking den Rang abzulaufen. Hans-Martin war sozusagen (und bewusst ausgewählt) der Banker unter den Kandidaten; einer bei dem man wissen konnte, dass es ein Leichtes sein würde, sich auf ihn als die Antifigur zu einigen. So funktioniert das bei Bankern ja auch: Sogar Angela Merkel findet Banker inzwischen doof und kann sich dabei des Jubels aller Seiten sicher sein. Da widerspricht ihr nicht mal Gregor Gysi.
Muss man sich darüber entrüsten? Kann man. Aber dann muss man Privatfernsehen als solches in Frage stellen. Hans-Martin ist nichts anderes als die gehypte Witzfigur, die in eine grandiose Reihe gehört mit Peter Bond, Giulia Siegel, Daniel Küblböck und Sladdi (kennen Sie den noch?) Was folgt, ist klar: Es wird irgendwelche Satireseiten geben, lustige Fotomontagen, vielleicht taucht er auch in „TV total“ in einem Hotkey auf (das gehört zur Verwertungskette). Oder irgendwann mal im Dschungel. Er ist, wenn man so will, das perfekte Ergebnis eines Kandidatencastings im Privatfernsehen.
Und das Netz? Verwundert es, wenn in einem Medium wie „Twitter“, das letztendlich nichts anderes als die Echtzeit-Kommunikation von vielen mit vielen, sich viele rasant zusammenschließen, um sich über #hassmartin zu echauffieren? Dass es bei YouTube inzwischen Videos gibt, die seinen bizarren Auftritt dokumentieren? Auch das muss man nicht goutieren, aber so ist das Netz. Nichts ungewöhnliches, business as usual. So geht Fernsehen heute. Früher hätte man sich am Montag auf dem Schulhof oder im Büro über SDR unterhalten, heute macht man es live bei „Twitter“.
Ein vermeintlich kluger Mann wie Hans-Martin hätte das wissen müssen. So aber darf er jetzt froh sein, wenn Stefan Raab nicht auch noch ein Spottlied über ihn aufnimmt – mit besten Grüßen vom Maschendrahtzaun.
Diesmal kann ich Ihren Ausführungen beim besten Willen nicht zustimmen. Zusammengefasst interpretiere ich den Beitrag so: Hans-Martin ist an allem selbst Schuld und das Privat- (oder Primitiv-) Fernsehen soll mal ruhig so weitermachen – es kann nun mal nicht anders.
Vermutlich erleben wir dann demnächst, dass unliebsame Kandidaten nicht nur verbal – sondern tatsächlich verprügelt werden. Am besten kurz vor Ende der Show am Studioausgang. Zuschauer, die zuvor mit Baseballschlägern ausgestattet werden, bilden eine Gasse und dann „hau drauf“. Diese Art der „Bestrafung“ hat schließlich (nicht nur) in Deutschland Tradition. Genau so übrigens wie die „Tradition“, dass Einzelne in die Ecke gestellt werden, damit sich die Meute genüsslich an ihnen austoben kann. Geübt wird das bis heute in deutschen Kindergärten, zumindest in Oberbayern.
Bleibt noch die Frage, wie sich die anonymen Feiglinge im Netz an der „Bestrafung“ beteiligen könnten? Vielleicht durch Anfeuerungen der Schläger über Twitter. Die Tweets könnten auf Großleinwänden für das vor Hass rasende Studiopublikum sowie als „Bauchbinden“ zu den Prügelszenen für die Zuschauer des samstäglichen Familienprogramms eingeblendet werden…
Klingt unmöglich? Nein – wir sind doch schon kurz davor: Bild.de nutzt bereits selbst geschürte Hass-Eintäge um daraus weitere Geschichten zu fabrizieren: http://www.bild.de/BILD/unterhaltung/TV/2009/09/13/schlag-den-raab/hans-martin-schulze-vom-publikum-ausgebuht.html.
Die Verantwortung für solche Hass-Tiraden liegt bei den Machern solcher Sendungen, die im Sinne der Einschaltquote vor keiner Schweinerei zurückschrecken. Denen sollten Sie als – von mir überaus geschätzter – Medienjournalist kräftig auf die Finger hauen.
Viele Grüße
Horst Müller
Lieber Horst Müller,
ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich wollte keineswegs damit sagen, dass privates TV einfach mal so weitermachen solte, weil die eh nicht anders können. Ich war nur erstaunt, dass es derart heftige Reaktionen auf etwas gab, was doch eigentlich schon lange Alltag ist: dass nämlich Sender jemanden absichtlich als Witzfigur vorführen. Die ganzen Debatten früher über Talkshows, später über DSDS, liefen doch genau darauf raus: Wie sehr darf ich jemanden zum Idioten machen? Über Twitter in dem Kontext zu debattieren, finde ich deplatziert. Twitter hat seine Unschuld verloren? Ach herrje. Bei Twitter laufen nicht mehr oder weniger Deppen rum als andernorts, nur dass ich sie da ausblenden kann, indem ich nur die Leute abonniere, die ich wirklich lesen will.
Und genau deswegen schrieb ich ja: Man muss doch dann bitte nicht über SDR debattieren, sondern wenn schon dann gleich das ganze private TV. Und was „Bild“ da gerade mit Hans-Martin macht, geschenkt. Weil so furchtbar erwartbar. Dass es heuchlerisch ist, darüber brauchen wir uns nicht unterhalten.
In einem sind wir allerdings vermutlich wirklich unterschiedlicher Meinung: Es gibt Unterschiede zwischen Menschen, die man vor sich und ihrer Ahnungslosigkeit schützen muss und solchen, die wissen müssen, was sie tun. Diese arme Frau mit dem „Maschendrahtzaun“ (Sie erinnern sich?) dachte damals bis zum bitteren Ende bei Frau Salesch, sie sei wirklich in einer „echten“ Gerichtsverhandlung. Die wusste wirklich nicht, wie ihr geschieht. Das war ein übles Spiel, das man mit ihr spielte. Bei Hans-Martin und seinem IQ von 143 hält sich mein Mitleid in Grenzen.
Viel wichtiger scheint mir ein klassischer Denkfehler der Netz-Enthusiasten. Es ist eben NICHT dasselbe, auf dem Schulhof über einen Fernsehauftritt zu motzen oder im Netz Hasstiraden auszukotzen. Das eine ist privat, das andere ist öffentlich. Weil im Netz beide Sphären durcheinander geraten, werden wir noch viel öfter mit solchen Fällen zu tun haben. Und dabei kann es jeden treffen – denn jeder bewegt sich irgendwo in der Öffentlichkeit und wird vielleicht bei einer dummen Sache gefilmt, die sich dann auf Youtube wiederfindet und innerhalb von Stunden von hunderttausenden Menschen gesehen werden kann.