Eigentlich müsste man meinen, gerade junge Journalisten sollten Spaß an dem haben, was in den letzten Jahren passiert ist – und an dem, was in den kommenden Jahren noch alles passieren wird. An dieser durchaus sympathischen Anarchie, die im Netz und durch die Digitalisierung herrscht, an den Möglichkeiten, selber Maßstäbe zu setzen, anstatt sich an den Maßstäben zu orientieren, die andere irgendwann vor vielen Jahren gesetzt haben. Eine Chance, die man im Journalistenleben vielleicht nur einmal bekommt, wenn überhaupt. Dass dem nicht so ist, stelle ich seit einigen Jahren mit einem gewissen Befremden fest; hier und hier diskutiert man dieses Phänomen aktuell ebenfalls.
Wenn ich es mir recht überlege, dann halte ich das allerdings keineswegs mehr für ein ausschließlich auf den lieben Nachwuchs begrenzte Probleme. Soweit ich mich momentan umschaue – der Mensch, sogar der Journalist, sehnt sich offenbar nach klaren Regeln, nach irgendwelchen Stückchen Papier, an die man sich festklammern kann. Dass einer der beliebtesten Sätze in Bezug auf Innovation „Das haben wir noch nie so gemacht“ ist, wundert mich nach der einen oder anderen Erfahrung der letzten Wochen kein bisschen mehr. Ich habe mich selten so getäuscht wie in der Erwartung, man würde Leute glücklich machen, wenn man ihnen sagt: Vergesst den ganzen Formatkram. Hier ist Netz, hier ist Freiheit, hier gibt´s keine 80-Zeilen-Dogmen und 1.30-Zwangsjacken. Hier gilt erst einmal nur: sei gut, sei kreativ, sei innovativ, sei originell. Oder was Billy Wilder als oberstes Gebot ausgegeben hatte: Du sollst nicht langweilen (was eh schon schwierig genug ist).
Doch statt überschäumender Begeisterung häufig betretene Gesichter: Kann ich ein Skript haben? Haben Sie nicht ein paar nette Best-Practice-Beispiele? Mein Audio ist über 1.30 – darf man das überhaupt? Das sind so die Momente, in denen ich an den Satz denken muss, wonach die Deutschen das einzige Volk sind, dass vor einer Revolution am Bahnhof erst einmal eine Bahnsteigkarte löst (oder so ähnlich). Oder Zitat Tucholsky: Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.
Kein wirklich neues Phänomen übrigens: Als in den späten 80er Jahren der Ganzseitenumbruch eingeführt wurde, gingen die damals davon Betroffenen Printkollegen auch auf die Barrikaden, manchmal sogar (aber fein säuberlich geordnet) auf die Straße. Verweigerungshaltung statt des Versuchs, aus anstehenden Neuheiten das Beste zu machen, meine Güte – wie traurig ist das denn?
So sind wir wohl, wir Deutsche (andere auch? keine Ahnung…). Ob jung, ob alt, egal. Wenn nicht alles seine Ordnung hat, macht uns das irgendwie unbehaglich. Nur, was dagegen tun? Anarchie und Innovation verordnen – in einem Volk, in dessen Muttersprache 63 Prozent der weltweiten Steuerliteratur verfasst sind?
Den Gedanken habe ich aktuell ziemlich aufgegeben: Die Karawane zieht denn mal weiter.